Judentum:Niemals normal

Judentum: Das Judentum als "ein weiterer Stamm Bayerns": Ministerpräsident Markus Söder (li.) mit Pinchas Goldschmidt, dem Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz und Oberrabbiner von Moskau.

Das Judentum als "ein weiterer Stamm Bayerns": Ministerpräsident Markus Söder (li.) mit Pinchas Goldschmidt, dem Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz und Oberrabbiner von Moskau.

(Foto: Sven Hoppe/dpa)

Zwischen Antisemitismus, religiösen Traditionen und Zeichen der Hoffnung: Europas orthodoxe Rabbiner treffen sich in München.

Von Johan Schloemann

Die jüdischen Gemeinden in Europa leiden nicht nur am Antisemitismus, sondern auch an der Säkularisierung, am schwindenden Verständnis für die Religion. Und aus ihrer Sicht lässt sich beides nicht immer voneinander trennen. Dies ist eine der Botschaften, die von der Generalversammlung der Europäischen Rabbinerkonferenz ausgeht. Das Treffen der orthodoxen jüdischen Religionsführer aus 43 Ländern findet diesmal, pandemiebedingt verschoben, in München statt. Das heißt für München, die einstige "Hauptstadt der Bewegung" des Nationalsozialismus: Man sieht gerade viele schwarze Hüte und viele eindrucksvolle Bärte.

Das Problem mit der Säkularisierung zeigt sich konkret daran, dass das Schächten, also das rituelle Schlachten und Ausbluten von Tieren, bei Politikern zunehmend Anstoß erregt. Schweden, Norwegen, Island, Dänemark, Belgien und die Schweiz haben die Tötung der Tiere ohne vorherige Betäubung inzwischen verboten. Andernorts, so auch in Deutschland, gibt es Ausnahmen von Tierschutzbestimmungen zugunsten der Religionsgemeinschaften.

Daniel Höltgen, Beauftragter des Europarats zum Umgang mit religiöser Intoleranz, äußerte in München die Sorge, von den Politikern Europas verhielten sich "manche ignorant, manche ideologisch" gegenüber solchen Traditionen. Die Rabbiner vertreten die Auffassung, eine fachgerechte Schechita, also das koschere Schächten, führe zur unmittelbaren Bewusstlosigkeit der Tiere und sei nicht grausamer als die gewöhnlichen Schlachtmethoden. Auch die Beschneidung von Jungen verteidigen sie. Bereits wirksame oder drohende Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit sehen die jüdischen Gemeinden dabei auch als Nebeneffekt einer anti-muslimischen Politik in einigen Ländern. Das Vorgehen etwa gegen das islamische Schlachten in den notorischen "Hinterhöfen" treffe auch die jüdische Minderheit.

Katharina von Schnurbein, Koordinatorin zur Bekämpfung des Antisemitismus bei der EU-Kommission, sagte auf der Rabbinerkonferenz, hier helfe nur eine klare, aber eben auch tolerante staatliche Regulierung. Juden müssten in Europa ihre religiösen Traditionen praktizieren können. Schnurbein kündigte an, im Oktober eine europäische Konferenz mit den Religionsgemeinschaften und den Mitgliedsstaaten zu organisieren, um "Lösungen zu finden". Angesichts wiederholter Anschläge und Anfeindungen gegen jüdische Einrichtungen und Personen ist es jedenfalls nicht verwunderlich, dass diese die Frage ihrer Religionsfreiheit im selben Zusammenhang behandeln. Wer wegen des Tragens einer Kippa bespuckt wird, wird solche religiösen Traditionen gerade als Kern der Religionsfreiheit verteidigen.

Der Moskauer Oberrabbiner spricht von "bombardierten Städten"

Was die antijüdischen Attacken angeht, so schwankt die Konferenz in einem Münchner Hotel zwischen Besorgnis und Hoffnung. Dass er in Europa jetzt ständig neuen Antisemitismusbeauftragten begegne, sagte Rabbi Andrew Baker vom American Jewish Committee, das sei für ihn zwar ein Krisenzeichen - auch im Lichte von Verschwörungsmythen im Zuge der Corona-Pandemie -, es zeige aber ebenso, dass Regierungen und Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren viel sensibler geworden seien. Als historisches Zeichen der Hoffnung nennt er ukrainische Holocaust-Überlebende: Einst seien sie vor den Deutschen geflohen, jetzt fänden sie in Deutschland Zuflucht.

Über den Krieg in der Ukraine, von dem auch jüdische Gemeinden betroffen sind, spricht der Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, Pinchas Goldschmidt, mit einer gewissen Vorsicht - er ist nämlich der Oberrabbiner von Moskau. Dass er zur Begrüßung seiner mehr als 250 Kollegen "bombardierte Städte" beklagte und sagte, Europa müsse "für die Freiheit kämpfen", waren da schon recht weit gehende Aussagen, auch wenn Goldschmidt vorab betont hatte, es träfen sich hier Rabbiner, keine Generäle oder Politiker. Auch jüdische Gemeinden helfen Flüchtlingen, und die Konferenz hat mit einem Gebet für den Frieden begonnen, an dem auch die Oberrabbiner Israels teilnahmen. Goldschmidt kündigte außerdem die Arbeit an einem "Ethik-Kodex" im Nachgang der Konferenz an, um Fällen von Missbrauch in jüdischen Einrichtungen vorzubeugen.

Eine solche Zusammenkunft des europäischen Judentums in Deutschland abzuhalten, kann niemals "normal" werden, auch wenn sie schon einmal in Berlin stattfand. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) erneuerte als Gastgeber sein "Schutzversprechen" für jüdisches Leben, forderte die Staatsanwaltschaften zu weiterer Wachsamkeit "auf der Straße und im Netz" auf und bezeichnete das Judentum im Überschwang gar als einen "weiteren Stamm Bayerns". Zum Abschluss ihres Kongresses besuchen die Rabbiner an diesem Mittwoch die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau.

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