Süddeutsche Zeitung

Juden in Deutschland:Extrem polarisiert

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Alte und neue Formen von Antisemitismus beschäftigen derzeit zahlreiche Autoren. Manch einer greift dabei zu teils recht schrägen Argumenten. Ein kleiner Überblick.

Von Isabell Trommer

Im Jahr 1996 verklagte der britische Publizist David Irving die amerikanische Historikerin Deborah Lipstadt und den Penguin-Verlag. Lipstadt hatte Irving in ihrem in den Vereinigten Staaten 1993 erschienenen Buch "Denying the Holocaust" als einen der gefährlichsten Wortführer der Holocaustleugner bezeichnet. Im britischen Rechtssystem trägt bei einer Verleumdungsklage der Beklagte die Beweislast. An 32 Verhandlungstagen wiesen Lip-stadts Anwälte die Geschichtsverfälschungen Irvings nach. Historiker wie Christopher Browning, Richard Evans und Peter Longerich schrieben Gutachten und wurden ins Kreuzverhör genommen. Unter anderem stellten sie dabei den Forschungsstand zur Vernichtung der europäischen Juden dar. Denn Irving behauptete, die Morde wären nicht systematisch erfolgt. Außerdem leugnete er, dass Juden in Gaskammern umgebracht wurden. Im April 2000 wies das zuständige Londoner Gericht seine Klage ab.

"Man kann sie nicht völlig ignorieren", schreibt Deborah Lipstadt über Holocaustleugner in ihrem aktuellen Buch "Der neue Antisemitismus". Man müsse ihre Lügen aufdecken. Mit Holocaustleugnern zu reden kommt für sie allerdings nicht infrage: "Die Wahrheit lautet, sie sind Lügner, und mit Lügnern kann man nicht diskutieren." Holocaustleugnung ist nur eine Spielart des Antisemitismus, mit dem sich Deborah Lipstadt befasst. Auch wenn der deutsche Titel des Buches, das im Englischen "Antisemitism: Here and Now" heißt, etwas anderes vermuten lässt: Ihre These ist nicht, dass es eine neue Art von Antisemitismus gibt; ihr ist es um die vielfältigen gegenwärtigen Ausdrucksweisen zu tun.

Die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit dauert an

Antisemitismus ist eine hartnäckige Konstante - eine antimoderne Weltanschauung, die sich auf kein politisches Lager beschränken lässt. Antisemitische Übergriffe nehmen wellenförmig zu und ab, wie Klaus Holz 2005 in "Die Gegenwart des Antisemitismus" schrieb - einem Buch, das an Brisanz nichts eingebüßt hat.

Zwar lässt sich laut Polizeistatistik in Deutschland kein Anstieg antisemitischer Straftaten verzeichnen, aber sie sind sichtbarer als früher. Im Internet sind antisemitische Äußerungen in den vergangenen zehn Jahren radikaler geworden; dabei erweist sich außer klassischen Stereotypen der israelbezogene Antisemitismus als dominante Form der Judenfeindschaft, wie die an der Technischen Universität Berlin erstellte Langzeitstudie "Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses" zeigt. Außerdem eskalieren immer wieder Auseinandersetzungen um Unterstützer der transnationalen Kampagne "Boycott, Divestment and Sanctions" (BDS), die unter anderem zum Boykott israelischer Waren, Künstler und Wissenschaftler aufruft. Gegenwärtig ist in den öffentlichen Diskussionen also eine erneute Zuspitzung zu beobachten. So sind antisemitische und den Holocaust relativierende Stimmen - etwa von AfD-Politikern - lauter geworden. Solche Aussagen bleiben nicht unwidersprochen. Daran zeigt sich auch, dass die Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit andauert.

Deborah Lipstadt hat keine wissenschaftliche Studie geschrieben, sondern eine Art Briefroman. Lipstadt antwortet auf Nachrichten zweier fiktiver Figuren: Die jüdische Doktorandin Abigail und der Juraprofessor Joe berichten von persönlichen Erfahrungen, politischen Entwicklungen und antisemitischen Vorfällen, sie sind "besorgt" und "verwirrt"; die in Atlanta lehrende Historikerin systematisiert und erklärt.

Antisemitismus versteht Lipstadt als eine wahnhafte Form von Hass. Es handle sich um eine Weltanschauung, eine Verschwörungstheorie. Dabei unterscheidet sie verschiedene Typen von Antisemiten: Extremisten, Steigbügelhalter, Salon-Antisemiten und ahnungslose Antisemiten. Die Ereignisse von Charlottesville, White-Supremacy-Gruppen, der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn, der seit einiger Zeit mit Antisemitismus-Vorwürfen konfrontiert wird, und die Linke in den Vereinigten Staaten kommen zur Sprache. Es geht außerdem um verschiedene Erscheinungsformen von Judenhass: islamistischen Antisemitismus, Antizionismus, Täter-Opfer-Umkehr und Feindschaft gegenüber dem Staat Israel.

Außer Beispielen aus europäischen Ländern liegt ein Schwerpunkt des Buches auf politischen Auseinandersetzungen an amerikanischen Universitäten. Lipstadt kritisiert die BDS-Kampagne, deren Ziel es sei, Israel zu dämonisieren, hält aber auch nichts davon, solche Bewegungen an Universitäten zu verbieten oder schwarze Listen mit den Namen von Unterstützern zu führen. Antisemitismus sei etwa dort zurück, wo jüdische Studierende "sich nur zögerlich jüdischen Studentenverbänden anschließen, weil sie ihre Studienzeit nicht im Kampf gegen überzogene Israel-Kritik und Judenhass verbringen wollen".

Lipstadt nimmt die wachsende Anzahl antisemitischer Vorfälle ernst, will sich dabei aber weder von einem "absoluten Pessimismus" noch von einem "naiven Optimismus" leiten lassen.

Lipstadt sucht den Dialog, Shalicar und Zuckermann bieten Streitschriften an

Die Schwäche des als Konversation angelegten Buches besteht darin, dass es sich von dieser zu jener Beobachtung hangelt. Dabei ist der Ton gelegentlich betulich: "Das Gute im Angesicht des Bösen feiern", wird etwa als Losung ausgegeben. Die Historikerin hat sich für einen persönlichen und edukativen Zugriff entschieden, weil sie sich nicht allein von Zahlen und Statistiken leiten lassen will. Das ist bisweilen unbefriedigend, zumal die Brief-Form nicht auf Dauer trägt.

Wie ideologisch aufgeladen und polarisiert die Debatten um Antisemitismus sind, kann man an zwei anderen Neuerscheinungen ablesen: einerseits am Buch "Der neu-deutsche Antisemit. Gehören Juden heute zu Deutschland?" von Arye Sharuz Shalicar, andererseits an Moshe Zuckermanns "Der allgegenwärtige Antisemit oder Die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit". Beide Autoren haben einige Jahre in Deutschland gelebt und sind nach Israel emigriert. Ihre Thesen sind gegensätzlich, jedoch nicht neu: Während Shalicar vom wachsenden Antisemitismus alarmiert ist, klagt Zuckermann über die in seinen Augen zu häufig und zu schnell erhobenen Antisemitismusvorwürfe.

Der in Berlin aufgewachsene Shalicar arbeitet heute als Direktor für Auswärtige Angelegenheiten im Büro des israelischen Ministerpräsidenten. Er berichtet hauptsächlich von persönlichen Erfahrungen, vom Antisemitismus auf deutschen Straßen und im Internet (etwa auf seiner Facebook-Seite). Seiner Wahrnehmung nach äußert sich Hass auf Israel und auf Juden immer heftiger: unter Links- und Rechtsradikalen, unter Muslimen und in den deutschen Medien. Es ist ein Verdienst des Buches, verschiedene Spielarten von Antisemitismus aufzuzeigen, doch kommt es argumentativ und sprachlich allzu grob daher.

Der Historiker und Soziologe Zuckermann befasst sich im ersten Teil seines Buches mit Israel. Das Land befinde sich in einer historischen Krise. Im Mittelpunkt seiner Kritik stehen die seit 1948 ungelöste Frage der Trennung von Staat und Religion sowie die Politik gegenüber den Palästinensern. Diese erzeuge "immer neue Opfer", Israel habe sich, so seine Behauptung, "historisch zum Täter gewandelt".

Anschließend wendet sich Zuckermann Deutschland zu, wo man sich geradezu obsessiv mit dem Thema Antisemitismus befasse. Das habe zum einen mit einer Zunahme antisemitischer Tendenzen zu tun. Doch hauptsächlich seien Philosemitismus und eine "unhinterfragte Israelsolidarität" dafür verantwortlich, dass Kritik an der Politik Israels zu rasch mit einem Antisemitismusvorwurf belegt werde. Diese Solidarität verhindere kritische Debatten und sei letztlich selbstbezogen, weil sie auf Schuldgefühle der Deutschen zurückgehe. Hier zeigt sich, wie einseitig ausgewählt Zuckermanns Beobachtungen sind.

Die Bücher von Shalicar und Zuckermann sind als persönliche Erfahrungsberichte oder Streitschriften angelegt, Lip-stadt hingegen sucht den Dialog. Dabei wäre es interessant gewesen, wenn sie die historische Perspektive noch stärker entfaltet hätte. Es lohnt sich, ihr Buch aus den Neunzigern über Holocaustleugnung noch einmal in die Hand zu nehmen. Auch wenn sich Antisemitismus historisch wandelt, folgt er doch immer den gleichen Mustern.

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Quelle:
SZ vom 17.12.2018
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