Jubiläum:"Vordenkerin und Vorkämpferin"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigt das hundertjährige Bestehen der Internationalen Arbeitsorganisation. Gleichzeitig warnt er vor Renationalisierung.

Von Henrike Roßbach, Berlin

Normalerweise sind die Kameras bei Pressekonferenzen auf jene gerichtet, die auf dem Podium sitzen. Am Dienstag allerdings, beim Pressegespräch zum 100. Geburtstag der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Berlin, schwenkte der Kameramann immer wieder in die erste Reihe. Denn dort saß Susanne Holtkotte, jene Reinigungskraft, die Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) kürzlich in einer Talkshow kennengelernt hatte.

Damals hatten die beiden vereinbart, einen Tag lang die Rollen zu tauschen. Heil wird Ende Mai in Bochum im Einsatz sein, am Mittwoch war Holtkotte in Berlin dran. So ganz als Ministerin trat sie dann zwar doch nicht auf, sonst hätte ja sie statt Heil auf dem Podium gesessen; mit dem Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Reiner Hoffmann, mit ILO-Generalsekretär Guy Ryder und Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer. Immerhin aber war Holtkotte an der Seite des Ministers unterwegs. Ganz entspannt sei es bislang gewesen, sagte sie. "Wir haben schon 'ne Tasse Kaffee getrunken. Und jetzt gucken wir mal, was der Tag so bringt."

Vor allem brachte er den Bundespräsidenten. Er würdigte die ILO als "Vordenkerin und Vorkämpferin der Arbeit". Und er machte deutlich, dass es auch in Deutschland arbeitspolitischen Nachholbedarf gebe. Etwa bei der Bezahlung von Männern und Frauen. Die internationale Vereinbarung, dass männliche und weibliche Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit gleich bezahlt werden sollen, sei in Deutschland zwar 1955 ratifiziert worden. Die Lücke aber klaffe weiter, sagte Frank-Walter Steinmeier. "Noch einmal ein halbes Jahrhundert Verzögerung sollten wir uns nicht leisten."

Der Strukturwandel der Gegenwart, das sind für Steinmeier Automatisierung und Digitalisierung. Beides bedeute "natürlich nicht automatisch das Ende der Arbeit". Die Frage sei jedoch, wie sich die Arbeit des Einzelnen verändere - und die Gesellschaft insgesamt. "Digitale Geschäftsmodelle krempeln Branchen um, gefährden Jobs, schaffen aber auch neue", sagte er. Diese neuen Jobs aber dürften nicht zu "Arbeitsverhältnissen zweiter Klasse" werden; etwa wenn Arbeit seltener im Betrieb stattfinde und Plattformen den Arbeitgeber ersetzten.

Ohne den amerikanischen Präsidenten Donald Trump oder die Brexit-Befürworter in Großbritannien direkt zu erwähnen, warnte Steinmeier vor Renationalisierung. Das eigene Land zuerst oder "Take back Control", die Schlachtrufe ähnelten sich. Statt Kontrollgewinn aber drohe Kontrollverlust. Europa müsse seine Kräfte bündeln, denn es gebe in der EU nur zwei Arten Länder: die kleinen - und jene, die noch nicht bemerkt hätten, "dass wir im Weltmaßstab alle kleine Staaten sind".

Und Susanne Holtkotte? Die machte ein Erinnerungsfoto vom Dach des Veranstaltungsortes aus, einem ehemaligen Umspannwerk, und freute sich auf den Gegenbesuch des Ministers. Den hatte die Moderatorin als "irgendwie auch Arbeitnehmer" vorgestellt. Woraufhin er ankündigte, seine Mitarbeiter im Ministerium mal zu fragen, ob die das auch so sehen.

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