Nelson Mandela war ein Mann mit Sinn für Symbolik. Um am 27. April 1994 seine Stimme bei den ersten freien Wahlen Südafrikas abzugeben - den Wahlen, aus denen er mit seinem African National Congress (ANC) als strahlender Sieger hervorgehen sollte -, reiste er nach Durban, ganz im Osten Südafrikas. Dort liegt John Dube begraben, der 1946 gestorbene Gründer und erste Präsident des ANC. Nachdem er gewählt hatte, ging Mandela zu Dubes Grab und sagte: "Ich bin gekommen, Herr Präsident, um Ihnen zu berichten, dass Südafrika frei ist."
Das Klassenzimmer, in dem Mandela wählte, ist heute ein Museum. Neben einer Wahlurne (ein Nachbau, nicht das Original) steht eine Mandela-Statue, auf Bildschirmen kann man sich Videos des früheren Präsidenten anschauen, theoretisch zumindest. Alle Bildschirme sind schwarz, weil es keinen Strom gibt. "Ein Blitzschlag", sagt der Mitarbeiter des Museums mit einem entschuldigenden Lächeln. Mandela ist überall, aber er schweigt. Wenn man will, kann man auch darin ein Symbol sehen: für ein Land, in dem vieles nicht so läuft, wie sich das die Südafrikaner 1994 vorgestellt haben.
Südafrika begeht an diesem Wochenende den 30. Geburtstag von Freiheit und Demokratie. Doch die Feierlaune ist getrübt. Zu groß sind die ungelösten Probleme, von der grassierenden Jugendarbeitslosigkeit von 70 Prozent über die hohe Kriminalität bis zur Unfähigkeit des Staates, seine Bewohner verlässlich mit Strom und Wasser zu versorgen. Zu groß ist die Diskrepanz zwischen den Hoffnungen, die vor allem die schwarze Mehrheit mit dem Ende der Unterdrückung durch die weiße Minderheit verband, und der Wirklichkeit der Rainbow Nation eine Generation später. Einem Bericht der Weltbank von 2022 zufolge ist, nach 30 Jahren ANC-Regierung, die Ungleichheit auf der Welt nirgends größer als in Südafrika.
Cyril Ramaphosa, Südafrikas Präsident, lenkte bei der Feierstunde am Samstag den Blick auf die Erfolge der vergangenen 30 Jahre. "Vor dem 27. April 1994 glaubten viele, dass die Menschen dieses Landes aufeinander losgehen würden, dass sie einander abschlachten und umbringen würden. Doch das haben wir nicht getan", sagte er in der Hauptstadt Pretoria. "Nur jene, die absichtlich ihre Augen vor dem Fortschritt verschließen, können bestreiten, dass Südafrika heute ein unendlich viel besserer Ort ist als vor 30 Jahren."
Mandela kennen die Jungen nur als Denkmal - das sie kritisch sehen
Ramaphosa verwies auf den Ausbau des Sozial-, Gesundheits- und Bildungssystems. Zudem habe sich Südafrikas Wirtschaftsleistung seit 1994 verdreifacht, die Zahl der Beschäftigten verdoppelt, die Zahl Schwarzer in Führungspositionen vervielfacht. Trotz aller Bemühungen seien die Unterschiede zwischen Arm und Reich groß, die Kriminalitätsrate hoch und die Arbeitslosigkeit "unsere größte und drängendste Herausforderung". Doch wenn sich Südafrika auf den Geist von 1994 besinne, so Ramaphosa, werde es das schwere Erbe der Apartheid überwinden. "Wir sind ein Volk voller Optimismus."
Aus dieser Aussage spricht allerdings vor allem Ramaphosas Zweckoptimismus. Am 29. Mai wird gewählt in Südafrika, der Präsident stellt sich zur Wiederwahl. Umfragen zufolge wird der ANC erstmals nach 1994 seine absolute Mehrheit verlieren.
Eine aktuelle Erhebung sieht die Regierungspartei nur bei 40 Prozent - fast 20 Punkte unter dem Ergebnis der letzten Wahl. Es wäre eine historische Niederlage für den ANC, ein Desaster für Ramaphosa und das Ende der Post-Apartheid-Ära. Viele junge Wähler kennen den ANC nicht als stolze Befreiungsbewegung, sondern als scheiternde Regierungspartei. Mandela haben sie nicht als Präsidenten erlebt, sondern kennen ihn nur als Denkmal - das sie kritisch sehen.
Mandela, so lautet ein verbreiteter Vorwurf, sei 1994 nicht weit genug gegangen, als er sich für Versöhnung und gegen eine radikale Neuordnung der Besitzverhältnisse entschied. Genau das, eine Enteignung der Weißen, versprechen nun gleich zwei ANC-Abspaltungen nachzuholen: die Economic Freedom Fighters (EFF) und uMkhonto we Sizwe (MK), an deren Spitze Südafrikas Ex-Präsident Jacob Zuma steht. Jener Zuma, der 2018 von Ramaphosa aus dem Amt gedrängt worden war, nachdem er das Land mit seinen Getreuen in Partei und Wirtschaft systematisch ausgeplündert und an den Rand des Ruins gebracht hatte. Zusammen kämen EFF und MK Umfragen zufolge derzeit auf etwa 20 Prozent der Stimmen - vor allem auf Kosten des ANC.
Sollte die Alleinregierung des ANC tatsächlich enden, stellt sich die Frage, mit wem die Partei eine Koalition bilden könnte. Mit der liberalen Democratic Alliance (DA), der derzeit stärksten Oppositionspartei? Oder doch mit der radikalsozialistischen Konkurrenz von EFF oder MK? Die Antwort wird entscheidend sein. Die Zeitung Daily Maverick bezeichnete den 29. Mai als "wichtigste Wahl seit dem Ende der Apartheid".