Vor 70 Jahren, nur vier Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung der Konzentrationslager, wurde in Deutschland der Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit gegründet. Es begann ein Dialog zwischen den Religionen unter Voraussetzungen, wie sie angesichts der von den Kirchen zum Teil mitgetragenen, zumindest still tolerierten und nur selten widersprochenen Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten schwieriger kaum sein konnten. Es ist ein Dialog, der bis heute auf beiden Seiten wertgeschätzt wird.
Der fruchtbare Austausch zwischen beiden Religionen macht zugleich Mut, es mit einem weiteren Dialog auf Augenhöhe unter schwierigen Vorzeichen zu versuchen - dem jüdisch-muslimischen. Der Zentralrat der Juden in Deutschland strebt jetzt an, diesen Dialog zu intensivieren.
Seit einigen Jahren wird in unterschiedlichen Formaten dieser Versuch unternommen: auf wissenschaftlicher Ebene, zwischen hochrangigen politischen und religiösen Vertretern und - vor allem in Deutschland - oft zwischen bestimmten zivilgesellschaftlichen Gruppen.
Während es beim religiösen Austausch häufig um das Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne geht und um Fragen eines säkularen Islam beziehungsweise Judentums, steht in den sozialen Diskursen mittlerweile eine andere Fragestellung im Raum - die gemeinsamen Erfahrungen, denen beide Minderheiten ausgesetzt sind.
Gesellschaftliche Ausgrenzung, ein mangelndes Wissen der Mehrheitsgesellschaft über Judentum und Islam bis hin zu antisemitischen oder islamfeindlichen Anschlägen sind der Horizont, vor dem sich das Gespräch bewegt. Vor einigen Jahren verbreitete sich sogar die These, Muslime seien die Juden von heute - so stark wurde die Islamfeindlichkeit wahrgenommen. Der antiislamische Rassismus wurde und wird oft in einem Atemzug mit dem Antisemitismus genannt.
Antisemitismus:Zentralrat der Juden: "Lage hat sich wirklich verschlechtert"
Die Bekämpfung des Antisemitismus müsse sich die ganze Gesellschaft zu eigen machen, fordert der Verbandspräsident. Zuvor hat der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung gewarnt, Juden sollten besser nicht jederzeit und überall die Kippa tragen.
Antisemitismusforscher haben diese These klar zurückgewiesen. Sie würde zum einen der derzeit verbreiteten Islamfeindlichkeit, die keinesfalls verharmlost werden darf, eine überzogene Monstrosität geben, denn - um nur einen Aspekt zu nennen - von staatlicher Verfolgung der Muslime kann in Deutschland keine Rede sein. Zum anderen steckt in der These eine unzulässige Relativierung des Holocaust.
Dem Austausch von Juden und Muslimen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ihren Erfahrungen als Minderheit kommt eine höhere Bedeutung denn je zu. Denn mit dem Einzug der AfD in unsere Landesparlamente und in den Bundestag hat sich die politische Lage verändert. Eine Partei hat enorm an Einfluss gewonnen, die Islamfeindlichkeit in allen Facetten verbreitet. Damit einher geht die Politik der AfD, ein gesellschaftliches Klima zu erzeugen, in dem Minderheiten Misstrauen und Abwehr entgegenschlägt.
Unabhängig von den Dialogformaten ist zu fragen, vor welchem Hintergrund dieser Austausch stattfindet. Stärker, als es bisher der Fall ist, sollte die gemeinsame Geschichte beider Religionsgemeinschaften in den Blick genommen werden.
Gerne wird auf das "Goldene Zeitalter", zum Beispiel im Mittelalter in Spanien, verwiesen, in dem die Religionen fruchtbar zusammenlebten. Auch die Erzählung, wie gut es den Juden ging, wenn sie unter muslimischer Herrschaft lebten, ist weit verbreitet. Hier lohnt es sich jedoch, genauer hinzuschauen und die Forschung zu diesen Epochen zu berücksichtigen. Denn inzwischen dürfte es weitgehend Konsens in der (westlichen) Forschung sein, diese Goldenen Zeitalter nicht zu verklären. Unter muslimischer Herrschaft mussten Juden zwar - anders als unter christlicher Herrschaft - keine Pogrome fürchten, gleichberechtigt waren sie nicht.
Wer in die Geschichte schaut, darf dann erst recht nicht die jüngeren Zeitläufte ignorieren - all jene Ereignisse, die heute unter dem Schlagwort "Nahostkonflikt" zusammengefasst werden. Dieser Konflikt wird auch auf den Schulhöfen Deutschlands ausgetragen. Die schwierigen Vorzeichen, unter denen der jüdisch-muslimische Dialog steht, lassen sich in ein paar Namen übersetzen, die da lauten Hamas, Hisbollah oder IS.
Es ist dieser politische Hintergrund, der islamistische Terrorismus radikalisiert Menschen auch in Deutschland, der auch den Zentralrat der Juden jetzt veranlasst hat, in größerem Stil in den jüdisch-muslimischen Dialog einzutreten. Wir haben ein neues Projekt gestartet mit dem Titel "Prävention durch Dialog: Jüdisch-muslimisches Gespräch neu gedacht".
Dabei erheben wir nicht den irrwitzigen Anspruch, den allumfassenden jüdisch-muslimischen Dialog zu führen. Das wäre unmöglich. Unseren Beitrag sehen wir als einen Schritt auf dem Weg zu einem guten Miteinander von Juden und Muslimen in unserer Gesellschaft.
Wer einen Generalverdacht gegen Muslime sieht, hat den Kern unseres Projekts nicht verstanden
Dabei fokussieren wir uns auf das Thema des Antisemitismus unter Muslimen. Wir wollen mit unseren intergenerationell angelegten Dialogformaten dazu beitragen, Antisemitismus im Keim zu ersticken. Daher sprechen wir von Prävention. Wir wollen keine bereits Radikalisierten deradikalisieren - vielmehr wollen wir einer antisemitischen Radikalisierung vorbeugen. Eine solche Prävention in Verbindung mit einem fairen Dialog zu praktizieren, ist der innovative Ansatz des Projekts. Wer darin einen Generalverdacht gegen Muslime sieht, hat den Kern unseres Projekts nicht verstanden.
Dieser Dialog kann nur sinnvoll geführt werden in der Annahme, dass es auf muslimischer Seite Offenheit gibt. Daher möchten wir unterschiedliche Gruppen ansprechen, um durch die empathischen Begegnungen Unsicherheiten zu nehmen. Dies trägt dazu bei, gegen die Versprechen und Verlockungen religiöser antisemitischer Fundamentalisten gewappnet zu sein.
Dass dieser Dialog auch zu Erkenntnissen und zu einer größeren Offenheit auf jüdischer Seite führen wird und dass davon die Gesellschaft insgesamt profitieren wird, davon geht der Zentralrat der Juden selbstverständlich aus. Für den neuen Dialog von Juden und Muslimen sei der Gedanke eines evangelischen Christen empfohlen, nämlich des früheren Bundespräsidenten Johannes Rau: "Wer sich auf einen Dialog einlässt (....), der hat bereits eine fundamentale Grundentscheidung getroffen (....). Er hat allein durch die Tatsache, einen Dialog zu führen, anerkannt, dass er nicht allein im Vollbesitz der ganzen Wahrheit ist."
Josef Schuster, 65, ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.