Noch wartet Johannes Kretschmann zu Hause im schwäbischen Örtchen Laiz auf Post, auf die offizielle Bestätigung seines Bundestagsmandats. Sobald das Schreiben vorliegt, will er sich in den nächsten Zug nach Berlin setzen, um als Nachrücker für eine kürzlich verstorbene Grünen-Abgeordnete an der zweitletzten Sitzungswoche in dieser Legislaturperiode teilzunehmen. Auf der Tagesordnung stehen eine Debatte über Migrationspolitik und Beschlüsse zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Der Spätberufene kann trotz des Kurzzeitmandats, das im März schon wieder endet, also noch bei wichtigen Dingen mitreden. Bundesweite Beachtung findet die Personalie aber aus einem anderen Grund: Johannes Kretschmann, 46, ist ein Sohn von Winfried Kretschmann, 76, dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und grünen Erfolgsgaranten.
Die Parallelen sind auch zu schön. In Laiz, einem Teilort von Sigmaringen, auf halbem Weg zwischen Stuttgart und dem Bodensee gelegen, wohnt Johannes Kretschmann nur wenige hundert Meter vom Haus der Eltern entfernt. Auch politisch liegen Vater und Sohn nicht weit auseinander – mit ihrem Einsatz für den Klimaschutz und ihrem Blick darauf, was mehrheitsfähig ist. Aber für den Landtag hätte Johannes Kretschmann nie kandidiert, das wäre dann doch zu nah am Vater.
Bekanntheit ist ein Wert an sich, ein großer Name aber auch eine Last
Mit großen Namen ist das in der Politik so eine Sache. Einerseits ist Bekanntheit bei Wahlen ein Wert an sich, und sei sie, fürs Erste zumindest, nur geliehen. Andererseits kann ein solcher Name auch eine Last sein, ein Schatten, der einen begleitet, ob man will oder nicht. Johannes Kretschmann hat diese ambivalente Erfahrung im Bundestagswahlkampf 2021 gemacht.
Seine Bewerbung stieß auf größeres Medieninteresse als die gestandener Bundesminister. Spiegel, Cicero, Neue Zürcher Zeitung, Bunte, alle blickten auf den bis dahin tiefschwarzen Bundestagswahlkreis Zollernalb-Sigmaringen. Da war der große Name. Da war der durchaus eigenwillige Kandidat selbst, der elf Jahre in Berlin Religionswissenschaften, Rumänistik und Linguistik studiert hatte, bevor er in die Heimat zurückkehrte. Der breites Oberschwäbisch spricht, eine Hemdkordel trägt und auf seiner Homepage die alte Rechtschreibung pflegt. Und da war die Aussicht auf eine Sensation: Eine Umfrage sagte ein Kopf-an-Kopf-Rennen um das Direktmandat mit dem CDU-Platzhirsch und damaligen Energie-Staatssekretär Thomas Bareiß voraus. Platz 22 auf der Landesliste schien zudem eine aussichtsreiche Rückfalloption für den Einzug in den Bundestag zu sein.
Doch dann ging das Direktmandat wieder an die CDU, Johannes Kretschmann landete hinter dem SPD-Kandidaten auf dem dritten Platz. Und Baden-Württembergs Grüne kamen nur auf 18 Mandate. Den Wahlabend hat er nicht in allerbester Erinnerung.
Seitdem widmet er sich politisch wieder dem Ehrenamt, als Fraktionschef der Grünen im Sigmaringer Kreistag setzt er sich mal für einen höheren Bioanteil in Schulmensen ein, mal gegen eine größere Neubautrasse zwischen Mengen und Meßkirch. Seine Brötchen verdient der Freiberufler mit Dialektvermittlung an Schulen und szenischen Lesungen auf Theaterbühnen, „Schwäbisch vom Feinschda“ heißt das aktuelle Programm.
Dass er nun doch noch zu einem Bundestagsmandat kommt, hat nicht nur aufgrund des Todes der Vorgängerin eine tragische Note. Sondern auch wegen des Zeitpunkts: Erst vor wenigen Wochen verzichtete Johannes Kretschmann auf eine erneute Nominierung als Bundestagskandidat. „Der Wahlkampf 2021 war mit sehr großen Erwartungen und unverhältnismäßiger Aufmerksamkeit verknüpft, daran wollte ich nicht anknüpfen“, sagt er. Wenn er allerdings gewusst hätte, „dass es so wie jetzt läuft, hätte ich mich anders entschieden“. Denn als Berufspolitiker hätte er sich voll auf den Wahlkampf konzentrieren können.
So wird sein Mandat nur wenige Wochen währen. Aber auch damit hat er seinem Vater etwas voraus: Winfried Kretschmann kandidierte 1994 auch mal für den Bundestag, aber ohne Erfolg.