Joachim Gauck:Ein Apostel, kein Gestalter

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Joachim Gauck wird das Amt des Bundespräsidenten kraft seiner Persönlichkeit rehabilitieren. Doch er gehört auch zu jenen Charismatikern, die das unrealistische Bild einer höheren Moral abseits der Politik nähren. Gaucks Freiheitsidee stammt aus seiner DDR-Zeit und ist der politischen Realität entrückt. Damit ist er nicht gerüstet für Probleme wie Bildungsgerechtigkeit oder Finanzkrise. Er ist ein Freiheitsapostel, kein Freiheitsgestalter.

Andreas Zielcke

Kein Zweifel, Joachim Gaucks persönliche und intellektuelle Statur heben ihn weit über die beiden Vorgänger hinaus, er wird das inzwischen arg ramponierte höchste Staatsamt rehabilitieren. Was aber ist trotz aller unbestreitbaren Vorzüge fragwürdig an ihm? Zwei Punkte sind es vor allem: Er blendet mit dem verführerischen Glanz des Unpolitischen, und er kultiviert einen politisch unreflektierten Freiheitsbegriff.

Joachim Gauck liest am gestrigen Freitag in Fürth aus seinen Memoiren. (Foto: Getty)

Schon 2010, bei Gaucks erstem Anlauf, betonte Günther Nonnenmacher in der FAZ, der Kandidat stehe "für die Sehnsucht nach dem Antipolitischen". Das bedeutet zwar nicht, dass Gauck sich selbst als antipolitisch sieht. Im Gegenteil, er nennt sich einen "eminent politischen Menschen". Gemeint sind daher vor allem die vielen anti- und apolitischen Erwartungen, die sich an ihn richten. Doch solche Projektionen zieht er nicht zufällig auf sich. Da bedient sich ein starker Politikverdruss eines dafür durchaus geeigneten Kandidaten.

Die letzten Jahre haben bekanntlich eine ganze Palette solcher der politischen Normalität enthobenen Idole hervorgebracht, wie Obama in den USA oder hierzulande Guttenberg. Mag dem Etikett "Heilsbringer" oder "Erlöser" selbst bei den Anhängern stets ein Schuss Ironie beigemischt sein, so wecken diese neuen Charismatiker doch weit verbreitete unrealistische, ja überirdische Hoffnungen und stellen den Politikbetrieb in den Schatten ihrer blendenden Aura.

Gauck ist kein frivoles Exemplar dieser Gattung, aber er gehört zu ihr. Bei ihm gilt das paradoxe Gesetz: Je seriöser, redlicher und prinzipienfester er argumentiert, desto höher steht er für seine Bewunderer über dem gewohnten politischen Schlagabtausch. Es scheint, als müsste mit ihm das gute Gewissen der Politik weit über ihrem Alltag schweben, um nicht von ihren Niedrigkeiten infiziert zu werden.

Der Irrtum des Politikverdrusses

Doch das Gegenteil wäre richtig. Politik als schmutziges Geschäft zu denunzieren, dem eine erhabene Moral in den Sternen gegenübersteht - genau das ist der Irrtum des Politikverdrusses, den Gauck verstärkt, ob er will oder nicht. Die Verachtung für den politischen Nahkampf mit all seinen taktischen Manövern ist eine Krankheit des politischen Idealismus, keine realistisch-vernünftige Prämisse. Dass demokratische, durch Parteienrivalität bestimmte Politik stets auch Machtpolitik ist, sollte jeder, der bei Gauck mit dem klassischen Charisma-Begriff von Max Weber hantiert, in dessen Text "Politik als Beruf" nachlesen.

Geradezu bizarr ist es darum, wenn Politiker aller Couleur mit Inbrunst hervorheben, dass Gauck eben wegen seiner Distanz zum Zwist der Parteien so besonders geeignet sei. Sie merken gar nicht, dass sie damit ihr ureigenes Metier entwürdigen. Die - falsche - Scham über das eigene parteipolitische Tun ist keine solide Basis für die Wahl des Staatsoberhaupts. Ein Land, das Parteipolitiker wie Heinemann und Weizsäcker in dieses Amt gebracht hat, sollte das wissen.

Wenn aber Leute wie die Generalsekretärin der SPD, Andrea Nahles, von Gauck nichts weniger als die "Erneuerung der Demokratie" erhoffen, weihen sie ihn nicht nur zum veritablen Erlöser. Vielmehr scheinen sie in ihrer zivilreligiösen Verzückung Gaucks verkürztes Politik- und Freiheitsverständnis zu teilen.

In der Tat liegt dessen zentralen Botschaften ein apolitisches Freiheitsdenken zugrunde. Was er selbst sein "eminentes politisches" Bewusstsein nennt, sieht er "seit frühen Kindtagen" geformt durch die familiären Erfahrungen mit Unterdrückung und innerer Dissidenz. Unter der Unrechtsherrschaft der DDR prägte er einen Begriff von Freiheit aus, der seine Herkunft aus diesem negativen, freiheitsverwehrenden Grundtatbestand bis heute nicht abgeschüttelt hat: Freiheit als eine höchst abstrakte und höchstpersönliche Kraft der "Selbstermächtigung" gegen alle äußeren Widrigkeiten.

Dazu passt, dass Gaucks Gesinnung als Bürgerrechtler bis kurz vor dem Ende der DDR passiv, also innerlich geblieben ist. Seiner Freiheitsidee als subjektive Kraft der Selbstbehauptung fehlt der Anschluss an die politische Realität. Auch jetzt noch, in der gesamtdeutschen Demokratie, offenbaren seine Freiheitsappelle den Mangel an jeglicher konkretisierenden institutionellen Substanz.

Wie die Frühchristen

Natürlich können seine Appelle an diese innere persönliche Kraft fruchtbare Motivationsschübe auslösen - auch im Westen, der sich seiner Freiheitsversprechen immer neu versichern muss. Gauck könnte sich zwar nicht als "Demokratielehrer", wie Merkel ihn lobt, aber doch als Katalysator erneuerter Freiheitsenergien erweisen. Das ist nicht wenig, ändert aber nichts daran, dass sein Freiheitsbegriff existentialistisch angelegt ist und vor den gewaltigen politischen Gestaltungsproblemen vollkommen hilflos dasteht. Wenn ihm ein verkümmerter Sinn für soziale Gerechtigkeit vorgeworfen wird, hat dies seine Berechtigung, trifft aber nicht den Punkt: Schon seinem Freiheitsverständnis fehlt es am gestaltungsbewussten politischen Gehalt.

Nicht von ungefähr erinnert es an Hannah Arendts Beschreibung des "antipolitischen und anti-institutionellen" Freiheitsaffekts der Frühchristen. Gaucks pastorales Credo lautet: "Je genauer wir die alten Zeiten anschauen, Verrat oder Treue, den Versuch tapfer zu sein, oder den Versuch, Alternativen zu leben, desto mehr vermögen wir zu glauben, dass wir eine Wahl haben." Damit zielt er auf eine rein subjektive Tugend- und Haltungsfreiheit, nicht auf die objektiv verfasste Freiheit, die den Individuen überhaupt erst angemessene ökonomische und politische Entfaltungsoptionen einräumt.

So wie den ersten Christen in feindlicher römischer Umwelt nur die Wahl blieb, ihr Bekenntnis und ihr Martyrium vor Gott und sich selbst zu verantworten, mit den römischen Gesetzen und Organen aber nichts gemein zu haben, und so wie auch den Bürgern der DDR oft nur die persönliche Wahl für Anstand und Selbstbehauptung in der repressiven Umgebung blieb (und ansonsten nur die Sehnsucht nach den Erlösungen des Westens) - so reduziert sich auch Gaucks religiös-existentialistischer Begriff von Freiheit auf eine unpolitische innere Selbstverantwortung. Er ist ein Freiheitsapostel, kein Freiheitsgestalter.

Für einen Lehrer der Demokratie ist das zu dürftig. "Freiheit ohne Chancengleichheit heißt Freiheit der Privilegierten", so greift der Philosoph Richard David Precht einen Punkt der Kritik an Gauck heraus. Allein aus dem so begründeten Anspruch auf Chancengleichheit sind komplexe Institutionen einer modernen Demokratie abzuleiten, vor allem ein besseres öffentliches Bildungswesen, eine flächendeckende Infrastruktur, etcetera. Von Gestaltungserfordernissen wie Klimaschutz oder Finanzmarktkontrolle, die alle auch für den Erhalt von Freiheitsgraden stehen, nicht zu reden.

Freiheit ist entweder, um rationale Handlungsoptionen zu eröffnen, erschlossen durch immer differenziertere Institutionen, oder sie bleibt so unbestimmt-pathetisch und demokratisch leer, wie Gauck sie versteht.

© SZ vom 25.02.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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