Süddeutsche Zeitung

Flucht vor Völkermord:Viele Jesiden erhalten kein Asyl

Immer weniger jesidische Flüchtlinge aus dem Irak werden in Deutschland anerkannt. Dabei hat der Bundestag gerade erst gefordert, den Überlebenden des Völkermordes hier Schutz zu gewähren.

Von Jan Bielicki

Jesidische Flüchtlinge, die aus dem Irak nach Deutschland geflohen sind, haben immer schlechtere Aussichten, hier Schutz zu bekommen - und das, obwohl der Bundestag die Verbrechen an den Angehörigen der jesidischen Religionsgemeinschaft erst vor zwei Wochen als Völkermord anerkannt hat.

Nach Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) haben im vergangenen Jahr 5396 Jesidinnen und Jesiden aus dem Irak Asyl beantragt, doch 2420 dieser Gesuche lehnte das Amt ab. Es erkannte weniger als die Hälfte der irakischen Jesiden, über deren Schicksal es inhaltlich entschied, als Flüchtlinge an.

Das geht aus Tabellen hervor, mit denen das Bundesinnenministerium eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Clara Bünger beantwortete und die der Süddeutschen Zeitung vorliegen.

Die meisten Jesiden aus Syrien gelten weiter als schutzbedürftig

Während das Bundesamt demnach fast alle Jesiden, die aus Syrien nach Deutschland fliehen, weiterhin als schutzbedürftig einstuft, geht die bereinigte Schutzquote für jesidische Iraker seit Jahren zurück: 2017 bekamen noch 91,8 Prozent einen Schutzstatus, 2022 nur noch 48,6 Prozent.

Diese Zahlen stehen im Widerspruch zu der feierlichen Erklärung des Bundestags, in der die Parlamentarier erst Mitte Januar einstimmig und unter anhaltendem Beifall des Plenums die Verbrechen der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) an Jesidinnen und Jesiden als Völkermord verurteilten. Vor allem im Jahr 2014 hatten IS-Kämpfer in Nordsyrien und im Nordirak mindestens 5000 Angehörige der Religionsgemeinschaft systematisch ermordet und Tausende Kinder und Frauen vergewaltigt und versklavt.

2700 Jesidinnen und Jesiden werden bis heute vermisst, 300 000 leben derzeit noch in Camps für Binnenvertriebene in Syrien und im Irak, "ohne Aussicht auf die Möglichkeit einer sicheren Rückkehr in ihre Heimatregion", wie die Erklärung festhält. Eine Heimkehr nämlich sei "aufgrund der hoch volatilen Sicherheitslage" kaum möglich.

Die Abgeordneten forderten die Bundesregierung darum ausdrücklich dazu auf, geflohenen Jesidinnen und Jesiden "weiterhin unter Berücksichtigung ihrer nach wie vor andauernden Verfolgung und Diskriminierung im Rahmen des Asylverfahrens Schutz zu gewähren".

Doch acht Jahre nach den Höhepunkt des Genozids gehen Asylentscheidungen des Bamf und die Rechtsprechung nicht mehr von einer Gruppenverfolgung von Jesidinnen und Jesiden im Nordirak aus, seit der IS dort nicht mehr quasistaatliche Macht ausübt.

In 1339 Fällen hat das Amt in den vergangenen Jahren bereits anerkannten jesidischen Flüchtlingen den bereits erteilten Schutzstatus wieder entzogen. "Wie sollen sie so das Erlebte verarbeiten und zur Ruhe kommen?", fragt Linken-Politikerin Bünger. Diese Widerrufe seien mit der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Asylrecht "nicht vereinbar, und mit dem Beschluss des Bundestags schon gar nicht". Bünger fordert "eine politische Bleiberechtsregelung" für die Überlebenden des Völkermords.

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