Israel:Magische Ruhe

Israel: Ein seltener Anblick: Weiße Dächer in Jerusalem, aufgenommen am Ölberg in dieser Woche.

Ein seltener Anblick: Weiße Dächer in Jerusalem, aufgenommen am Ölberg in dieser Woche.

(Foto: Ronen Zvulun/Reuters)

In Jerusalem schafft es der Wintereinbruch, die ewigen Konflikte zu überdecken - zumindest für einen Moment.

Von Peter Münch, Jerusalem

Im Zug von Tel Aviv hinauf ins 800 Meter hoch gelegene Jerusalem herrscht dichtes Gedränge. Ältere Damen hüllen sich in Daunenjacken, Eltern haben ihre Kinder mit Wollmützen und Handschuhen ausgerüstet. Stickige Luft, schläfrige Stimmung - doch plötzlich erhebt sich lautes Stimmengewirr. Handys werden gezückt für erste Fotos, und manch einer schaltet sogleich per Live-Video hinüber zu den Lieben daheim in den verregneten Niederungen. Denn draußen vor dem Zugfester gibt es Wundersames zu sehen: weiße Hügel, Schnee auf den Dächern und Mauern der Heiligen Stadt.

Schneefall in Jerusalem ist ein eher seltenes meteorologisches Ereignis. Einen Wintereinbruch wie in dieser Woche mit einer Schneehöhe von 20 bis 25 Zentimeter hat es zuletzt anno 2015 gegeben. Als Rekord steht das Jahr 1950 in den Annalen mit 100 Zentimetern. In der Regel bleibt die Stadt im Winter grün bis grau. Doch wenn der Schnee auf Palmen fällt, auf Kirchtürme und Moscheekuppeln, dann ist das ganze Land in Aufregung. Halb herrscht Notstand, halb Magie.

Den Notstand ruft die Stadtverwaltung aus. Schon Tage vorher wird eine umgerüstete Armada an Räumfahrzeugen in Stellung gebracht und tonnenweise Streusalz bereitgehalten. Gern lässt sich der Bürgermeister davor als oberster Schnee- und Feldherr ablichten. Am Donnerstag verfügte er die Schließung der Schulen, der öffentliche Nahverkehr wurde weitgehend eingestellt, und an die Bewohner erging die Aufforderung, möglichst in den Häusern zu bleiben.

Daran jedoch hält sich, wenn es ernst und weiß wird, kaum noch einer, und viele kommen überdies von außen angereist. Die Verlockung der Flocken ist größer als die Angst vor der Rutschgefahr. Auf abschüssigem Gelände sieht man schlittenähnliche Gefährte. Auf den Trottoirs und in den Grünanlagen werden Schneemänner gebaut, mit Möhrennasen oder Mundschutzmasken. Plastiktüten finden Verwendung als Nässeschutz auf den Hüten der Ultra-Orthodoxen und den Sneakers der Jugendlichen. Selten sieht man so viele lächelnde Gesichter in Jerusalem.

Weil die meisten Autos stillstehen und auch die Baustellen brachliegen, herrscht nicht nur ungewöhnliche Ruhe. Für eine zauberhafte Zwischenzeit vermag der Wintereinbruch sogar die Gräben der ewigen Konflikte zu überdecken. Auf der Plaza vor der Klagemauer liefern sich jüdische Schulklassen eine Schneeballschlacht. Nur einen Wurf entfernt tun muslimische Jugendliche das Gleiche vor dem Felsendom. Die überall präsenten israelischen Sicherheitskräfte stehen als Zuschauer am Rand. Hier werden sonst ganz andere Schlachten geschlagen.

Doch natürlich wird die Welt nicht anders, nur weil plötzlich Schnee fällt in Jerusalem. Vor der Al-Aksa-Moschee kommt einer auf die Idee, statt eines Schneemanns eine Schneerakete zu bauen, verziert mit Emblemen der Hamas. Im Ostteil der Stadt bewerfen Palästinenser israelische Polizisten mit Steinen, die von Schnee umhüllt sind. Im Westen passiert das bei einem Protest von rechten jüdischen Aktivisten. Und wenn die Schmelze einsetzt, sind die friedvollen Winterbilder sowieso gleich wieder Schnee von gestern. Aber für einen kurzen Moment immerhin hat der Schnee einmal alle gleich und viele fröhlich gemacht in Jerusalem.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: