Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg, 53, hat das wohl anstrengendste Jahr seiner Laufbahn hinter sich. Seit den Anschlägen vom 22. Juli 2011 hat er auf unzähligen Gedenkveranstaltungen geredet, mit den Überlebenden der Anschläge und den Hinterbliebenen der Terroropfer getrauert, an Beerdigungen teilgenommen und immer wieder intensive Debatten über die Folgen der Morde und die Lehren aus den Attentaten geführt.
An diesem Sonntag finden in Oslo und auf Utøya mehrere Gedenkfeiern zum ersten Jahrestag der Anschläge statt. Freitagmorgen hatte der Regierungschef für die Presse reserviert. Im Garten seiner Osloer Dienstvilla empfing er Kamerateams und Reporter zu Einzelinterviews.
Die Sonne scheint, Stoltenberg legt sein Sakko ab. Er wirkt gut vorbereitet, ernst, und auch ein bisschen stolz. Der Täter - Stoltenberg vermeidet es, ihn beim Namen zu nennen - habe mit seinen Morden die norwegische Gesellschaft attackiert. Aber er sei letztlich gescheitert. "Im Grunde ist Norwegen geblieben, was es war: eine offene, demokratische, vertrauensvolle Gesellschaft. Und das ist ein Sieg für unsere Demokratie", sagt er.
Bereits in seiner ersten Rede, wenige Stunden nach den Attentaten, hatte Stoltenberg den Norwegern versprochen, die Reaktion auf die Morde werde "mehr Offenheit und mehr Demokratie sein".
Dieses Versprechen sieht er eingelöst - Dank dafür gebührt Stoltenberg zufolge vor allem den Norwegern selbst. Viele seien nach den Terrorattentaten in politische Parteien und Jugendorganisationen eingetreten, es gebe heute mehr ehrenamtliches Engagement und eine lebendigere politische Debatte als noch vor einem Jahr. Sogar Umfragen bestätigten, dass die Norweger heute mehr Vertrauen in ihre Mitbürger und in die norwegische Gesellschaft hätten.
Andererseits plant Stoltenbergs Regierung aber auch, die Terrorgesetze des Landes zu verschärfen. Der Regierungschef sieht darin aber keinen Widerspruch. "Im Gegenteil: Dass die Leute sich sicher fühlen, ist Voraussetzung für Offenheit."
Ein Verbot rechtsextremer Organisationen oder eine schärfere Kontrolle etwa von Internetforen, wie sie in Deutschland oft diskutiert werden, lehnt er dagegen ab.
Extremismus müsse man in einer offenen Debatte mit Argumenten begegnen, meint er. "In Norwegen ist unsere Linie: keine neuen Verbote gegen Organisationen oder politische Standpunkte. Die Demokratie gewinnt im Kampf gegen Extremismus und Intoleranz."
Dies sei für ihn eine der wichtigsten Lehren aus den Anschlägen: "Die Demokratie ist überlegen. Sie ist unsere wichtigste Waffe im Kampf gegen Gewalt." Breivik hatte seine Morde in seinem so genannten Manifest und vor Gericht mit islamfeindlicher und rechtsextremer Ideologie begründet. Er sieht sich selbst als "Tempelritter" der gegen den "Multikulturalismus" kämpft.
Worte der Woche:Straßen voller Liebe und Trauer
Die Anschläge von Oslo und Utøya waren das Thema der Woche. Kronprinz Haakon findet die richtigen Worte: Norwegens offene Gesellschaft muss verteidigt werden. Rufe nach Rache und strengeren Gesetzen bleiben aus - nur die Aussage von Jens Breivik, dem Vater des Attentäters, fällt aus dem Rahmen.
Stoltenberg ist auch Vorsitzender der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, deren Jugendorganisation AUF das Sommerlager auf Utøya veranstaltete, wo Breivik 69 Menschen tötete.
Zuvor hatte der Attentäter eine Autobombe direkt vor der Staatskanzlei gezündet - der Ministerpräsident befand sich zu der Zeit nicht im Gebäude. Bei den Anschlägen verlor Stoltenberg mehrere Freunde und Mitarbeiter.
Gespräche mit seiner Frau Ingrid sowie mit Kollegen und Bekannten hätten ihm sehr geholfen, die eigene Trauer zu verarbeiten, sagt er im Interview. "Und für mich war es auch eine Hilfe, andere trösten zu dürfen, mit Betroffenen zu sprechen, auf Beerdigungen und Gedenkfeiern Reden zu halten. Es spendet Trost, wenn man trösten darf."
Am vergangenen Mittwoch war der Ministerpräsident zu einem privaten Besuch auf Utøya, wo er selbst als junger Nachwuchspolitiker viele Sommer verlebt hat. "Das war beides: gut und schlimm", erzählt er. Schlimm sei es gewesen, an das Schreckliche erinnert zu werden, das dort passierte. Aber es sei gut gewesen, die "idyllische, schöne Insel" zu besuchen, an die er auch viele gute Erinnerungen habe.
Auf einer Gedenkfeier nach den Anschlägen hatte Stoltenberg AUF einmal versprochen, er werde auf Utøya im Zelt übernachten, sollte es dort wieder einmal ein Sommerlager geben.
In diesem Jahr hat AUF die Veranstaltung abgesagt, ob die Insel je wieder für Jugendcamps genutzt wird, ist noch nicht beschlossen. Stoltenberg sagt, die Entscheidung darüber müsste der Jugendverband im Dialog mit den Opfern treffen. Aber sein Verspreche gelte noch.
"Ich würde mir wirklich wünschen, wieder einmal zurückzukehren und dort im Zelt zu schlafen. Denn was ich an dem 22. Juli gelernt habe, ist vor allem, das Leben wertzuschätzen. Und dass wir dankbar sein müssen, für die Tage, die wir bekommen."