Süddeutsche Zeitung

Jemen:Eine Einigung, die Hoffnung auf mehr macht

Die Kriegsparteien in Jemen vereinbaren einen Gefangenenaustausch. Wenn die Verständigung umgesetzt wird, könnten Friedensverhandlungen folgen.

Von Paul-Anton Krüger

Die Konfliktparteien in Jemen haben sich unter Vermittlung der Vereinten Nationen und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) auf einen Gefangenenaustausch geeinigt. Der UN-Sondergesandte Martin Griffiths zeigte sich nach den einwöchigen Verhandlungen in der Schweiz zuversichtlich, dass die geplante Freilassung von insgesamt 1081 Gefangenen zu einer Vereinbarung über eine landesweite Waffenruhe beitragen könne. Es wäre der größte Austausch seit Beginn des Bürgerkrieges im Herbst 2014.

"Unser Ziel ist, eine Einigung über eine gemeinsame Erklärung zu erzielen, die einen Waffenstillstand beinhaltet und den Krieg in Jemen beendet", sagte er in Glion am Genfer See, wo die Gespräche am Sonntagabend endeten. Eine solche Erklärung soll auch die Öffnung der Häfen, Flughäfen und Straßenverbindungen beinhalten, die wegen des Konflikts blockiert sind. In Jemen stehen sich die international anerkannte Regierung von Präsident Abd Rabbo Mansur Hadi, die durch eine von Saudi-Arabien geführte Militärkoalition unterstützt wird, und die aufständischen Huthi-Milizen gegenüber, die von Iran Waffenlieferungen und andere Hilfe erhalten.

Offen ist, ob die neue Vereinbarung umgesetzt wird. Bereits im Dezember 2018 hatten sich die Konfliktparteien im Zuge von Friedensverhandlungen in Schweden darauf verständigt, insgesamt 16 000 Gefangene auszutauschen. Allerdings wurde die Vereinbarung, die auch eine Waffenruhe für den umkämpften Hafen von Hodeidah enthielt, nicht umgesetzt. Zudem mussten die Namenslisten, welche die Kriegsparteien vorgelegt hatten, geprüft und konsolidiert werden. Zuletzt hatten die Kriegsparteien im Februar die Freilassung von 1400 Gefangenen vereinbart. Es kamen aber nur wenige frei.

Zuletzt hatten die Huthis versucht, in die ölreiche Provinz Marib vorzustoßen, die unter Kontrolle der Regierung steht. Immer wieder wird der von ihnen kontrollierte Norden mit der Hauptstadt Sanaa und anderen Bevölkerungszentren durch die Militärkoalition von der Treibstoffversorgung abgeschnitten. Auch erhoffen die Huthis davon eine bessere Ausgangsposition für Friedensverhandlungen.

Das IKRK, das den Austausch abwickeln soll, forderte Sicherheitsgarantien und die nötigen logistischen Zugänge. Die Details der Überstellung müssen erst noch vereinbart werden. Nach Angaben aus Verhandlungskreisen soll die Regierung etwa 680 gefangene Huthi-Kämpfer freilassen. Im Gegenzug hat die schiitische Miliz zugesagt, 400 Gefangene zu überstellen, unter ihnen 15 saudische Soldaten und vier Sudanesen, die als Söldner auf Seiten der Regierung gekämpft hatten. Vergangenes Jahr hatten die Huthis unilateral 290 Gefangene freigelassen, Saudi-Arabien 129. Zudem kamen bei einem lokal ausgehandelten Austausch in Taizz, der umkämpften drittgrößten Stadt des Landes, Dutzende frei.

Turki al-Malki, Sprecher der von Saudi-Arabien geführten Militärkoalition, begrüßte die Einigung. Ihr Ziel sei rein humanitärer Natur. Die Vereinbarung werde aber eine "solide Grundlage für den Dialog bilden" und dazu beitragen, eine "umfassende politische Lösung" zu erreichen. Aus der Huthi-Delegation hieß es, der Austausch solle Mitte Oktober beginnen. Mit der Einigung sei "das Eis gebrochen", sagte Abdelkadir al-Murtada, Vorsitzender des Kriegsgefangenen-Komitees der Huthis. Sie seien bereit, den 2018 vereinbarten Austausch umzusetzen, die Regierung aber nicht, sagte al-Murtada dem von den Huthis kontrollierten Fernsehsender al-Masirah. Ein Fortschritt in der Gefangenen-Frage könne aber Fortschritte in anderen Bereichen bewirken, fügte er hinzu.

Seit Jahren beschreiben die UN und Hilfsorganisationen die humanitäre Lage in Jemen als größte derartige Katastrophe weltweit. 24 Millionen der etwa 30 Millionen Einwohner des ohnehin ärmsten arabischen Landes sind für ihr Überleben von Hilfslieferungen abhängig. In der vergangenen Woche mussten die UN einen großen Teil ihrer Gesundheitsleistungen in Jemen beschneiden oder ganz stoppen, weil die internationale Staatengemeinschaft viel zu wenig Geld für die Nothilfe bereitstellt. Die UN haben laut der Nothilfe-Koordinatorin für Jemen, Lise Grande, nur eine Milliarde Dollar erhalten. Nötig wären mehr als drei Milliarden Dollar. 15 der wichtigsten humanitären UN-Programme seien reduziert oder eingestellt worden. Weitere 30 Programme würden ohne neues Geld in den kommenden Wochen folgen.

Zudem beschuldigen die Regierung und Hilfsorganisationen die Huthis, Hilfslieferungen aus politischen Gründen zu behindern und zu instrumentalisieren und damit die Situation weiter zu verschärfen. Der UN-Nothilfe-Koordinator Mark Lowcock hatte jüngst den Sicherheitsrat gewarnt, Jemen steuere erneut auf eine akute Hungersnot zu. Griffiths sagte, die Versorgungskrise gefährde die Bemühungen um Frieden und die entsprechenden Verhandlungen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5047207
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 29.09.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.