Am Tag nach der schweren Wahlniederlage sieht Japans Premierminister Shigeru Ishiba wieder besser aus. Nicht mehr so matt und niedergeschlagen wie abends zuvor, als er nach der Unterhauswahl seinen ersten Kommentar zum Absturz der rechtskonservativen Regierungspartei LDP und deren Stammkoalitionspartner Komeito abgab. Er steht am Pult der Pressekonferenz wie ein Demokrat, der aus der Klatsche das Beste machen will. Er redet nichts schön. Das geht allerdings auch gar nicht, denn obwohl die LDP weiterhin die meisten Sitze im Parlament hält, sind die Einbußen heftig. Von 256 Sitzen hat sich die LDP auf 191 verschlechtert. Komeito, der politische Arm der buddhistischen Organisation Soka Gakkai, ist von 32 auf 24 abgerutscht. Die absolute Mehrheit, welche die Partner seit 2012 gehalten hatten, ist weg. Und Ishiba sagt, er sehe „dieses ernüchternde Ergebnis als eine strenge Zurechtweisung des Volkes mit Blick auf die Einstellung der Partei zu Reformen“.
Shigeru Ishiba, 67, ein Protestant und gemäßigter Konservativer, hat schon viel erlebt mit der LDP. Eine ihrer größten Niederlagen hat er sogar selbst mitverursacht. 1993 war das, als die LDP nach 38 Jahren in der Regierung an Skandalen und internen Unzufriedenheiten zerbrach. Ishiba gehörte damals zu einer Mannschaft aus LDP-Abtrünnigen, die mit einer neuen Partei dazu beitrugen, dass die LDP ihre absolute Mehrheit an eine Achter-Koalition aus Oppositionskräften verlor. Das Bündnis hielt nicht lange, Ishiba kehrte später zur LDP zurück. Und 2009, als die LDP sogar die einfache Mehrheit im Parlament verlor und die Regierung an die Demokratische Partei Japans (DPJ) abgeben musste, war Ishiba ein parteikritischer Agrarminister. Vor der Niederlage hatte er dem damaligen Premier Taro Aso den Rücktritt nahegelegt.
Diesmal muss Ishiba zeigen, dass er die Krise meistern kann
Aber bei dieser Niederlage ist Ishiba nicht mehr nur der Mitläufer, der lässig auf andere zeigen kann. Jetzt steht er an der Spitze von Partei und Regierung, jetzt muss er zeigen, dass er diese Krise der LDP meistern kann. Bisher ist ihm das nicht gelungen.
Seit 1. Oktober ist Shigeru Ishiba im Amt. Er folgte Fumio Kishida, der seinen Posten wegen eines mächtigen Schmiergeldskandals nicht halten konnte. Ishiba war nicht unbedingt die naheliegende Wahl. Er gilt zwar als einer der beliebtesten Politiker im Land, ist aber überhaupt nicht populär unter den rechten Anhängern des ermordeten Ex-Premiers Shinzo Abe. Dass Ishiba sich bei der LDP-Präsidentschaftswahl trotzdem durchsetzte, hatte sicher auch damit zu tun, dass besagter Schmiergeldskandal vor allem die Abe-Anhänger belastete und ihn, Ishiba, so gut wie gar nicht.
Kurz nachdem Ishiba Premierminister geworden war, hellte sich die Stimmung um die LDP kurz auf. Ishiba wollte das ausnutzen. Deshalb veranlasste er so schnell wie möglich Neuwahlen, obwohl er der Opposition erst mehr Zeit geben wollte, um ihn kennenzulernen. Das blieb nicht der einzige Widerspruch, den Ishiba sich erlaubte. Seine erste Grundsatzrede als Premier war auch nicht gerade mitreißend. Neue Enthüllungen zu den Parteifinanzen belasteten die LDP zusätzlich. Außerdem waren zu viele LDP-Leute im Rennen, die mit dem Schmiergeldskandal in Verbindung stehen - 46 insgesamt. 28 davon verloren ihren Sitz. So konnte es nicht gelingen, mit Komeito die 233 Sitze zu erreichen, die für die absolute Mehrheit nötig gewesen wären.
Die Opposition ist zu zersplittert, um eine Alternative zu bieten
Zumal der Gegner stark war: Yoshihiko Noda, einst Premierminister beim Regierungsintermezzo der DPJ zwischen 2009 und 2012, führte die größte Oppositionspartei CDP mit klarer Anti-LDP-Botschaft durch den Wahlkampf. Ein Kommentator nannte Noda mal „den besten Premierminister, den die LDP nie hatte“ wegen seines zweckorientierten Politikstils. Er ist etwas weniger liberal als andere Führungspersonen in der CDP, die in der Mitte des politischen Spektrums steht. Durch Noda wurde die CDP für gemäßigt konservative Wählerinnen und Wähler attraktiv, die von der LDP enttäuscht sind. Das Wahlergebnis bestätigte Nodas Kurs. Von 98 Sitzen schnellte die CDP oder Konstitutionell-Demokratische Partei, wie sie ausgeschrieben heißt, auf 148.
Aber für eine eigene Koalition reichen die Kräfte der CDP nicht. Die nächstbesten Oppositionsparteien Nippon Ishin no Kai (38 Sitze) und die Demokratische Volkspartei (DVP/28) wären der CDP wohl auch zu rechts. Insgesamt ist der Oppositionsblock zu zerklüftet für eine gemeinsame Politik. Dass die LDP mit Komeito weiterregiert, war deshalb im Grunde schon klar, bevor Ishiba es am Montagnachmittag verkündete. Die Frage war nur: mit wem?
Shigeru Ishibas vorläufige Antwort lautet: mit niemandem. „Derzeit ziehen wir eine Koalition nicht in Betracht“, sagte er. Eine Minderheitsregierung will Ishiba also führen, die bei jedem Gesetzesvorhaben einzeln auf die Oppositionsfraktionen zugeht. Ishiba erklärte: „Es liegt in der Verantwortung unserer Partei, die die meisten Sitze gewonnen hat, der Öffentlichkeit verständlich zu machen, dass wir unabhängig von unserer Parteizugehörigkeit für die Menschen zusammenarbeiten werden.“ Das ist selbstbewusst von Ishiba, aber nicht unrealistisch. Denn für die LDP sind DVP und Ishin sicher nicht zu rechts. Die CDP wiederum ist unter Noda nicht so liberal, dass LDP-Leute gar nicht mit ihnen verhandeln könnten.
Der Montag war kein leichter Tag für Japans Politik-Establishment. Altgediente LDP-Bonzen mussten ihre Niederlagen eingestehen. Shinjiro Koizumi, sonst eher ein LDP-Sonnenschein und als talentierter Sohn von Ex-Premier Junichiro Koizumi geschätzt, trat als Wahlkampf-Chef zurück. Und der neue Komeito-Chef Keiichi Ishii war untröstlich darüber, dass er seinen Abgeordneten-Platz an einen DVP-Kandidaten verloren hatte. Shigeru Ishiba hingegen wirkte bei einem Auftritt am Montag nicht entmutigt. Die schwere Niederlage schien er vor allem lehrreich zu finden.