Süddeutsche Zeitung

Japan:Vor Schlimmerem bewahrt

Der frühere japanische Premier Naoto Kan blickt zurück auf die Katastrophe von Fukushima: In seinem Buch beschreibt er, was alles schieflief in den Tagen nach dem Reaktor-Unglück.

Von Christoph Neidhart, Tokio

Eigentlich sei Naoto Kan an der Atomkatastrophe von Fukushima schuld, hat der bekannte Japanologe Jeff Kingston einmal die Anschuldigungen der Medien und vieler konservativer Politiker gegen den ehemaligen Premier zusammengefasst. Doch Kingston, Direktor des Asien-Instituts an der Temple Universität, der selbst eine Studie über Fukushima verfasst hat, ist überzeugt: Kan habe Japan vor einer viel größeren Katastrophe bewahrt. Wie er das tat, lässt sich jetzt in Kans Buch "Als Premierminister während der Fukushima-Krise" nachlesen, das nun auf Deutsch erschienen ist. Am Mittwoch stellte der 69-Jährige es vor der Ostasiengesellschaft in Tokio vor. An der Wand hinter ihm hing eine Karte von Ost-Japan mit konzentrischen Kreisen um den Havarie-Reaktor: das "Worst-Case"-Szenario.

Ausgearbeitet hatte es der Vorsitzende der Atomenergie-Kommission, Shunsuke Kono, während der ersten Wochen der Katastrophe. Der äußerste Kreis, 250-Kilometer vom Kraftwerk entfernt, schließt Tokio mit ein. Im schlimmsten Fall hätte der ganze Umkreis evakuiert werden müssen. "50 Millionen Menschen, und nicht für einige Tage oder Monate, sondern vielleicht für 30 oder 40 Jahre", sagt Kan. Außerdem hätte Fukushima die Nachbarländer radioaktiv verseucht.

Die japanische Presse wusste von diesem Szenario zunächst nichts, später verschwieg sie es. Und verbreitete stattdessen Lügen über Kan, der als ehemaliger Umweltaktivist vom politischen Establishment nie akzeptiert worden ist. Die Medien warfen ihm vor, er habe die Katastrophe verschlimmert, etwa mit seinem Inspektionsbesuch am Morgen nach dem Unglück. Überdies habe er die Meerwasserkühlung der durchschmelzenden Reaktoren gestoppt. Beides stimmt nach offiziellen Untersuchungen nicht. Die Behauptung, Kan habe die Meerwasserkühlung gestoppt, hat der jetzige Premier Shinzo Abe in die Welt gesetzt, ein Mann der Atomlobby. Kan hat ihn wegen Verleumdung verklagt. Das Urteil wird in diesem Jahr erwartet.

Tepco hatte sich nicht auf einen Notfall vorbereitet. Als er eintrat, wusste niemand, was zu tun war

Kan sagt von sich, bis Fukushima habe er nicht an der Sicherheit der japanischen Kernkraftwerke gezweifelt. Er kannte die Untersuchungsberichte von Tschernobyl und war überzeugt, dergleichen sei in Japan nicht möglich. Heute hält er Fukushima für die größere Katastrophe als Tschernobyl. Die Tage unmittelbar nach dem Unglück, in denen fast alles falsch lief, was falsch laufen konnte, haben ihn, wie er in seinem Buch beschreibt, zum Kernkraft-Gegner werden lassen. Er schildert, wie die Tepco-Bosse in Tokio am vierten Tag nach dem Tsunami die havarierten Reaktoren hatten aufgeben wollen. Sein tagebuchartige Rückblick liest sich als Beinahe-Untergang Japans. Tepco hatte sich nie auf eine Atomkatastrophe vorbereitet, man hatte sie ja schließlich für unmöglich erklärt. Niemand hatte den Notfall geprobt. Als er doch eintrat, wusste niemand, was zu tun war. Stecker passten nicht, und als die Feuerwehr aus Tokio Spezialfahrzeuge an den Rand der Sperrzone brachte, holte Tepco sie nicht ab. Die Tepco-Bosse in der Hauptstadt konnten selbst einfache Fragen nicht beantworten, der Chef der nuklearen Aufsichtsbehörde hatte keine Ahnung von Atomtechnik - er war Ökonom. Haruki Madarame, verantwortlich für Nuklearsicherheit, behauptete gegenüber dem Physiker Kan, eine Wasserstoff-Explosion am havarierten AKW sei nicht möglich. Kurz darauf ereignete sich die erste von dreien.

Er glaube, Gott habe Japan gerettet, sagt Kan. Als der Sicherheitsbehälter von Reaktor 2 wie ein Ballon zu platzen und sich die Radioaktivität weit zu verstreuen drohte, weil es nicht gelang, ein Sicherheitsventil zu öffnen, bildete sich irgendwo ein Loch. Wie ein Wunder fiel der Druck ab, warum, weiß bis heute niemand. Die Brennstäbe im Abklingbecken 4 hätten bald ohne Wasserkühlung unter freiem Himmel gelegen und zu schmelzen begonnen, hätte sich in der Trennwand zum Nebenbecken nicht ein Loch aufgetan, sodass Wasser einfließen konnte. Dabei hätte das Nebenbecken nach Plan leer sein sollen.

Nachdem Kan zum Kernkraft-Gegner bekehrt war und die Abschaltung des AKW Hamaoka westlich von Tokio durchsetzte, betrieb die Atomlobby mit Unterstützung Shinzo Abes im September 2011 seinen Rücktritt. Bis heute verweigert Japan seinem früheren Premier die Achtung und den Dank, die ihm gebühren. Naoto Kans Buch ist emotional, zuweilen etwas sprunghaft, wie angeblich auch sein Führungsstil. Im Vortrag in Tokio dagegen überzeugte er seine Zuhörer mit klarer Argumentation gegen die Kernkraft. Die Welt dürfe keinen radioaktiven Abfall produzieren, der 100 000 Jahre überwacht werden müsse. Außerdem sei die Kernkraft nicht nur gefährlich, sondern inzwischen auch viel zu teuer.

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SZ vom 17.09.2015
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