Japan:Was kostet die neue Sicherheit?

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Premierminister Fumio Kishida während seines Besuchs in den USA. In seiner Partei stoßen seine Pläne zur Sicherheitspolitik auf Widerstand. (Foto: Samuel Corum/AFP)

In der Regierungspartei LDP wird gestritten, wie die historische Wende in Japans Sicherheitspolitik umzusetzen ist. Premierminister Fumio Kishida könnte dabei sein Amt verlieren.

Von Thomas Hahn, Tokio

Wegen der Opposition macht sich der Abgeordnete Shigeru Ishiba von Japans konservativer Regierungspartei LDP keine Sorgen. Der frühere Verteidigungsminister sitzt seit 1986 im Unterhaus, er hat die Zeiten erlebt, in denen die anderen Fraktionen tatsächlich stark waren. Das ist lange her.

Derzeit ist selbst die zentristische CDP als zweitstärkste Kraft mit ihren 97 Sitzen der LDP (260 Sitze) und deren Koalitionspartner Komeito (32) rettungslos unterlegen.

In der Sitzungsperiode, die an diesem Montag im Tokioter Regierungsviertel Nagatacho beginnt, können die gegnerischen Abgeordneten so viel schimpfen, wie sie wollen, über den nächsten Rekordhaushalt oder die neue Sicherheitsstrategie der Regierung von Premierminister Fumio Kishida - sie werden nichts daran ändern. "Wir können durchsetzen, was wir wollen", sagt Ishiba, 65.

Eine Zeitenwende ist leichter angekündigt als realisiert

Aber das heißt nicht, dass der Streit um die größte Wende in Japans Sicherheitspolitik seit 1945 entschieden ist. Wer genau wird sie bezahlen? Dazu haben viele in der LDP eine andere Meinung als Premier Kishida. Und Shigeru Ishiba spürt, dass die Menschen im Inselstaat beim Thema Sicherheit vor zu vielen ungeklärten Fragen stehen. "Das Verständnis der Öffentlichkeit fehlt noch", sagt er.

Eine Zeitenwende ist eben leichter angekündigt als umgesetzt. Und das bekommt Japans Premierminister Fumio Kishida gerade zu spüren. Im Dezember machte er einen Kabinettsbeschluss bekannt, der sich für die starken Nationalisten im Land wie die Erfüllung eines lang gehegten Traumes anhören musste: Japan wird bis 2027 seinen Wehretat von ein auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts verdoppeln. Frische Milliarden werden frei für Raketen, welche die nationalen Selbstverteidigungskräfte noch nie hatten.

Und die Sicherheitsstrategie umfasst neuerdings das Prinzip der sogenannten Counterstrike Capability, der Fähigkeit, Raketenstellungen eines Feindes zu beschießen, wenn dieser zum Angriff ansetzt. Japan wirkt plötzlich wie eine Nation, die trotz pazifistischer Verfassung und Abhängigkeit von den USA in Zukunft selbst etwas für ihre Verteidigung tun kann.

Aber jetzt geht es darum, die Strategie Wirklichkeit werden zu lassen. Und derzeit ist nicht einmal klar, ob Kishida dabei noch lange Premierminister bleiben darf.

Die Finanzierung ist das offensichtlichste Problem. Wegen ihrer riesigen Parlamentsmehrheit macht die LDP diese Frage praktisch unter sich aus. Die Partei ist dabei in zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite steht Kishida, der für einen "neuen Kapitalismus" wirbt und durchgesetzt hat, dass die neue Sicherheitsstrategie zum Teil mit Steuererhöhungen bezahlt wird.

Kishida wirbt für einen "neuen Kapitalismus"

Auf der anderen Seite stehen die Anhänger des ermordeten rechten Partei-Idols Shinzo Abe, der als Premierminister 2013 das sehr wirtschaftsfreundliche Programm Abenomics einführte: Die Abe-Anhänger sind gegen Steuererhöhungen und setzen nach alter Abenomics-Sitte weiter auf den Verkauf von Staatsanleihen an die Bank of Japan, der offiziell zwar ein Mittel der Geldpolitik ist, letztlich aber bei der Staatsfinanzierung hilft.

Der Abgeordnete Ishiba betrachtet diesen Streit aus sicherer Distanz. Natürlich ist er ein LDP-Insider, sogar einer, der an der Basis besonders beliebt ist. Im dünn besiedelten Wahlkreis Tottori 1 verteidigt er seinen Parlamentssitz bei jeder Wahl mit enormem Zuspruch; 2021 hatte er 84,1 Prozent der Stimmen.

Aber er hat in der LDP seine eigene kleine Fraktion, und seinen eigenen Ehrgeiz. Abes Rechtspopulismus mochte er nie, zwei Mal, 2012 und 2018, trat er bei der Wahl um die Partei-Präsidentschaft gegen ihn an. Und Kishidas "neuer Kapitalismus" ist ihm zu vage. "Kishida hat noch nie richtig erklärt, was das überhaupt ist." Die Zukunft des Premierministers sieht er nüchtern. "In der LDP gibt es nicht viele Leute, die wollen, dass Kishida langfristig an der Spitze bleibt", sagt er.

Die parteiinterne Demontage hat wohl längst begonnen. Sonst hätten seit Kishidas Kabinettsumbildung im August vermutlich nicht schon vier Minister nach Indiskretionen zurücktreten müssen. Dass Kishida eine Alternative zur bequemen Abenomics-Strategie sucht, hat eine Gruppe in der Partei aufgebracht. Es gab offene Kritik am Chef. Und Ishiba macht mit: Zuletzt hat er dem früheren Premierminister und Abe-Freund Yoshihide Suga ausdrücklich recht gegeben, nachdem dieser gesagt hatte, Kishida hätte als Premier seinen Fraktionsvorsitz abgeben müssen.

Stabilität wäre jetzt wichtig für Japan, denn die Herausforderungen sind groß. Inflation, Rekordverschuldung, Überalterung - und eben die Wende in der Sicherheitspolitik. Aber um Themen geht es eigentlich nicht, wenn das LDP-Establishment über seine Führung nachdenkt. Personalwechsel haben hier Tradition, und Kishida ist eben kein Populist wie Abe, der seiner Partei mit sorgloser Schuldenpolitik und Japan-First-Enthusiasmus von 2012 bis 2020 ein gutes Gefühl gab.

Den Rechten in der LDP fehlt eine klare Alternative zu Kishida

"Der Gedanke dahinter ist einfach", sagt Ishiba. "Kann man mit Kishida-san die Wahl gewinnen? Wenn nicht, muss ein Wechsel her." Er selbst findet es zu billig, mögliche Wahlniederlagen auf den Premier zu schieben. "Aber so wird es nun mal gemacht." Er glaubt: "Die allgemeine Stimmung ist, dass man Kishida zumindest bis zum G7-Gipfel im Mai in seiner Heimatstadt Hiroshima machen lassen sollte."

Und danach weg mit ihm? Wenn der interne Druck zu groß wird, könnte Kishida im Grunde jederzeit das Parlament auflösen und Neuwahlen ausrufen. Aber wer kommt dann? Die LDP-Rechten ringen seit Abes Tod im Juli 2022 um Orientierung. Ihnen fehlt ein klarer Kandidat. Alle parteiinternen Gruppen, die Abe leitete, sind weiterhin führungslos. Ist das eine neue Chance für Shigeru Ishiba? "Nicht völlig ausgeschlossen", sagt er und lächelt.

Das Finanzministerium in Tokio teilt mit, dass "etwa drei Viertel" der zusätzlichen Verteidigungsausgaben "durch verschiedene Maßnahmen" eingebracht werden könnten: durch Umverteilung von Staatsausgaben, Abrechnungsüberschüsse oder einen Spezial-Fonds aus nichtsteuerlichen Einnahmen. Die Regierungspartei habe beschlossen, "das verbleibende Viertel durch Unternehmenssteuern, Einkommenssteuern und Tabaksteuern zu decken". Die Steuern sollen "über mehrere Jahre bis 2027" steigen.

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Bei Ishiba klingt das noch nicht so klar. Er glaubt zwar auch, dass die Auflehnung gegen Steuererhöhungen letztlich verpuffen wird. Aber: "Wichtig ist: Die Summe der Steuererhöhung muss möglichst klein sein." Er ist dafür, Unternehmen statt Menschen damit zu belasten - er hält deshalb die Körperschaftssteuer für geeigneter als eine Verbrauchs- oder Einkommenssteuer. Vor allem aber findet Ishiba, dass es noch bei einem anderen Thema Diskussionsbedarf gibt.

Das Schlagwort Counterstrike Capability in der neuen Sicherheitsstrategie ist ihm noch zu schwammig. "Was genau wir für eine Fähigkeit bekommen können, ist noch nicht klar." Unter welchen Voraussetzungen darf Japan einen Feind beschießen? "Und selbst, wenn wir diese Fähigkeit haben - wie wird sie sich auf die Abschreckung auswirken?" Shigeru Ishiba muss die Waffenfreunde in seiner Partei enttäuschen. Es gibt noch viel zu tun, bevor Japan selbst Raketen abfeuern kann.

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