Sicherheitspolitik:Der Visionär lernt die Regeln der Diplomatie

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Als Erstes gibt es Neuwahlen: Japans neuer Premierminister Shigeru Ishiba (re.) hält das genauso wie viele seiner Vorgänger. (Foto: Yuichi Yamazaki /AFP)

Japans neuer Premierminister Shigeru Ishiba will eine asiatische Nato gegen Chinas Machtavancen. Das hat er zumindest gesagt, bevor er ins Amt kam. Und jetzt?

Von Thomas Hahn, Tokio

Am Mittwoch löste Japans neuer Premierminister Shigeru Ishiba das Unterhaus auf. Für Ishiba war das im Grunde nichts anderes als eine dieser Pflichten, die man als neuer Regierungschef eben hinter sich bringen muss, so ähnlich wie die Aufstellung des Kabinetts oder die erste Grundsatzrede.

In Japan hat der Premier das Recht, die wichtigere der beiden Kammern im japanischen Parlament jederzeit abzuberufen und Neuwahlen auszurufen. Fast nie dauert die Legislaturperiode deshalb die gesamten vier Jahre wie eigentlich vorgesehen; die aktuelle Periode wäre erst im Herbst 2025 ausgelaufen. Üblicherweise suchen sich die Premierminister einen Termin aus, der den bestmöglichen Wahlerfolg für ihre Partei verspricht. Ishiba macht das genauso. Vor zwölf Tagen hat seine Dauerregierungspartei LDP ihn turnusgemäß zum Nachfolger von Fumio Kishida als Parteichef gewählt. Vor acht Tagen wurde er mit der LDP-Mehrheit im Parlament Premierminister. Und jetzt will er schnellstmöglich die Bestätigung vom Volk. Termin der Unterhaus-Wahl ist der 27. Oktober.

Jeder Politiker nutzt die Vorteile, die das System ihm lässt. Und Shigeru Ishiba spürt schon in den ersten Tagen seiner Amtszeit, dass sich die Stimmung ihm gegenüber verändert. Er galt immer als Publikumsliebling unter den LDP-Politikern. Aber jetzt ist er eben nicht mehr der parteiinterne Establishmentkritiker, sondern der Chef der Nation. Alles, was er sagt, hat plötzlich ein anderes Gewicht. Seine Fans lernen einen Ishiba kennen, der sich von seinen eigenen Ideen distanzieren muss. Mit der frühen Wahl wollen Ishiba und seine Strategen wohl noch größeren Enttäuschungen zuvorkommen.

In der Sicherheitspolitik wird Ishibas Wandel besonders sichtbar

Besonders deutlich wird Ishibas Wandlung vom Nationalvisionär zum Diplomaten in der Sicherheitspolitik. Er war mal Verteidigungsminister. Er gilt als Experte auf dem Feld – auf jeden Fall interessiert es ihn sehr. Das äußert sich nicht nur in einer Schwäche für Modelle von Kriegsschiffen. Sondern auch in einer sehr klaren Vorstellung davon, wie Japan sich künftig gegen die Gefahren der Region wappnen sollte, vor allem gegen die Machtavancen Chinas. Vor der Präsidentschaftswahl in der LDP hat er dazu einen Text für die konservative amerikanische Denkfabrik Hudson Institute verfasst.

Darin beschreibt Shigeru Ishiba den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine als Mahnung für den Indopazifik. „Wenn man Russland durch China und die Ukraine durch Taiwan ersetzt, bedeutet das Fehlen eines kollektiven Selbstverteidigungssystems wie der Nato in Asien, dass Kriege wahrscheinlich werden, weil es keine Verpflichtung zur gegenseitigen Verteidigung gibt“, schreibt Ishiba. Deshalb hält er „eine asiatische Version der Nato“ für „unerlässlich“, inklusive Atomwaffensharing der USA oder gleich Stationierung solcher Waffen im Indopazifik.

Außerdem nennt Ishiba es seine „Mission“, den Sicherheitsvertrag zwischen den USA und Japan so zu ändern, dass Japan „unabhängig in Bezug auf die Sicherheit“ wird. Das sogenannte Japan-US Status of Forces Agreement (SOFA) verpflichtet die Amerikaner, Japan zu verteidigen, und die Japaner, den USA Stützpunkte zur Verfügung zu stellen. Die Zeit sei reif, „diesen asymmetrischen bilateralen Vertrag zu ändern“, findet Ishiba. Er denkt laut darüber nach, japanische Selbstverteidigungskräfte auf der Pazifikinsel Guam zu stationieren, die wegen ihrer zentralen Lage ein besonders wichtiger US-Stützpunkt ist.

Unter Fachleuten haben Ishibas Visionen Entsetzen ausgelöst

Der Gedanke, das amerikanisch-japanische Verhältnis neu auszutarieren, ist nicht neu. Es gab ja auch schon Nachbesserungen auf japanischen Wunsch. Und grundsätzlich wirken die privaten Einlassungen von Ishiba etwas vage. Aber gerade die Idee von der asiatischen Nato ist natürlich spektakulär für einen japanischen Premier. Die Kritik daran ist laut. Nicht nur Yoshihiko Noda, Chef der größten Oppositionspartei CDP, hält sie für „unrealistisch“.

Der Japan-Fachmann Jeffrey Hornung vom US-Thinktank Rand Corporation findet das auch. Grund: „Die Indopazifik-Länder haben weder eine gemeinsame Wahrnehmung von Bedrohung noch sind sie bereit, sich gegenseitig zu verteidigen“, schreibt Hornung auf SZ-Anfrage via E-Mail. Militärübungen japanischer Verteidigungsstreitkräfte auf USA-Territorium, um die gemeinsame Schlagkraft zu fördern, findet Hornung bedenkenswert. Aber: „Ich glaube, dass einige Ideen zu Spannungen mit den USA führen könnten, wenn Ishiba sie weiterverfolgt.“ Die des Atomwaffensharings zum Beispiel.

Und unter Fachbürokraten scheinen Ishibas Visionen sogar Entsetzen ausgelöst zu haben. In der Zeitung Asahi nennt sie ein leitender Beamter aus dem Verteidigungsministerium „Fantasie“. Ein anderer aus dem Außenministerium stellt klar, dass Japan auch mit Ishiba keine überflüssigen Konflikte riskiere: „Wir werden unsere Position zur internationalen Lage und zur bisherigen Ausrichtung der japanischen Diplomatie entschlossen vertreten.“

Ishibas Sinneswandel im Amt könnte sich auf das Wahlergebnis Ende Oktober auswirken

Danach richtet sich Shigeru Ishiba jetzt. In einem ersten Telefonat mit US-Präsident Joe Biden waren seine viel diskutierten Gedanken offiziell kein Thema. Bei seiner ersten Grundsatzrede am vergangenen Freitag im Parlament bekannte Ishiba sich zur Sicherheitspolitik seines Vorgängers Kishida. Auch sein Ziel sei es, mehr Freunde in der internationalen Gemeinschaft zu finden auf der Basis der Japan-USA-Allianz.

SOFA-Revision? Asiatische Nato? Kein Wort mehr davon. Bei der Fragestunde im Parlament sagte Ishiba auf Nodas Kritik, eine asiatische Nato werde man „nicht über Nacht“ erreichen. Auch der neue Außenminister Takeshi Iwaya, der Ishibas Kampagne vor der LDP-Präsidentschaftswahl geleitet hatte, nannte sie eine „Idee für die Zukunft“.

Ishiba-Freunde sind jetzt vielleicht enttäuscht. Kann sein, dass manche ihm seinen Sinneswandel im Amt auch bei der Wahl am 27. Oktober übel nehmen. In der USA-Regierung hingegen dürfte man erleichtert sein. Ihr reicht vorerst schon, vom Privatmann Ishiba erfahren zu haben, welche Forderungen aus Japan eines Tages auf sie zukommen könnten.

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