Der Abgeordneten Arfiya Eri hat die Korruption in ihrer Partei bisher nicht geschadet, im Gegenteil. Ihren Unterhaussitz für die japanische Regierungspartei LDP gewann die 35-Jährige im April 2023 bei einer skandalbedingten Nachwahl im Wahlkreis Chiba fünf. Der Sitz war frei geworden, nachdem ihr Parteifreund Kentaro Sonoura wegen unterschlagener Spendengelder zurückgetreten war. Jetzt steht Arfiya Eri vor dem Bahnhof im Tokioter Bezirk Akihabara bei einer Veranstaltung zur LDP-Präsidentschaftswahl an diesem Freitag und wirbt für den Wandel nach dem großen Schmiergeldskandal, der die Partei seit knapp einem Jahr belastet.
„Wir müssen eine neue Ära beginnen“, sagt sie, „wir haben keine Wahl.“ Sie selbst wirkt wie der leibhaftige Widerspruch zum LDP-Image vom grauen rechtskonservativen Männerbund: jung, dynamisch, weltgewandt, Tochter eines Uiguren und einer Usbekin, fließend in vier Sprachen. Und zur Veranstaltung mit den neun Kandidaten für die Nachfolge von Partei- und Regierungschef Fumio Kishida ist sie als Anhängerin des Digitalministers Taro Kono gekommen. „Er wird den Wandel bringen“, sagt sie.
Kishida hat immerhin das Ende der Abenomics-Wirtschaftspolitik eingeleitet
Aber was für einen? Das ist die Frage vor dieser turnusgemäßen Wahl unter LDP-Mitgliedern um die Parteiführung, die wegen der Mehrheitsverhältnisse im Parlament auch über die Besetzung des Amtes des Premierministers bestimmt. Wandel ist keine Stärke der rechtskonservativen LDP. Wandel hat auch den scheidenden Premier Kishida nicht beliebter gemacht; immerhin leitete der in seiner dreijährigen Amtszeit die Abkehr von der wenig nachhaltigen Abenomics-Wirtschaftspolitik des früheren Langzeit-Premierministers Shinzo Abe ein.
Der besagte Schmiergeldskandal war ein Einschnitt, so viel ist sicher. Im vergangenen Herbst begann die Staatsanwaltschaft zu ermitteln. Ergebnis: Parteiinterne Gruppen hatten mindestens seit fünf Jahren überschüssige Einnahmen aus Spendenpartys auf geheime Schmiergeldkonten fließen lassen. Allein die parteiinterne Gruppe des Ex-Premiers Abe verschob demnach 675,03 Millionen Yen, das sind 4,2 Millionen Euro, Kishidas Flügel immerhin 30,59 Millionen Yen (rund 192 000 Euro). Gegen die Schatzmeister der jeweiligen Gruppen wurden Verfahren eröffnet, einer hat schon eine Bewährungsstrafe bekommen. Außerdem wurden vier LDP-Abgeordnete angeklagt.
Fumio Kishida zeigte sich als reuiger Parteichef und bestrafte am Ende vor allem Kollegen aus der mittlerweile aufgelösten Abe-Faktion. Viele in der LDP waren sauer. Dass Kishida nicht mehr kandidiert, erspart ihm eine Niederlage.
Zwei Frauen und sieben Männer kämpfen um die Parteiführung
Und nun kämpfen also neun LDP-Leute um seine Nachfolge, zwei Frauen, sieben Männer, von denen zwei unter 50 sind. Einer der beiden jungen ist der Ex-Umweltminister Shinjiro Koizumi, 43, Sohn von Ex-Premier Junichiro Koizumi und Liebling der Klatsch-Medien. Der andere ist Takayuki Kobayashi, 49, der von 2021 bis 2022 Minister für wirtschaftliche Sicherheit war. Er wirkt wie ein Wiedergänger des Nationalisten-Idols Abe, der im Juli 2022 bei einer Wahlkampfveranstaltung erschossen wurde.
Auch Sanae Takaichi, derzeit Ministerin für wirtschaftliche Entwicklung, und der Ex-Gesundheitsminister Katsunobu Kato gelten unter den Kandidaten als Anhänger Abes. LDP-Generalsekretär Toshimitsu Motegi ist als selbstbewusster Kishida-Gegner bekannt. Außenministerin Yoko Kamikawa und ihr Vorgänger Yoshimasa Hayashi kommen hingegen aus der Kishida-Ecke.
Ex-Verteidigungsminister Shigeru Ishiba erweist sich in den Umfragen als Liebling der Basis, hat aber unter Abgeordneten einen schweren Stand, weil er sich einst mit Abe überwarf. Und Taro Kono ist ein vorwitziger Karrierepolitiker, den viele Menschen im Inselstaat genau deshalb nicht mögen.
Die PR der LDP verkauft diesen Neunkampf als „The Match“. Aber sogar die loyale Arfiya Eri sagt: „Jedes Mal haben wir neun Redner, es ist ein bisschen zu lang.“ Vor allem zeigt die Massenkandidatur, wie zerrissen die Partei ist. Egos drängen in den Vordergrund. Mehr als zwei Jahre nach Abes Tod hat die LDP keine klare Führungsfigur.
Seit ihrer Gründung hat die LDP fast immer die Regierung gestellt
„Nach meinen Informationen ändert sich die LDP nicht“, sagt Hiroshi Kamiwaki an einem anderen Tag in einer anderen Stadt. Kamiwaki, 66, ist Professor für Verfassungsrecht an der Kobe-Gakuin-Universität und auf seine ruhige Art ein Rebell. In der Öffentlichkeit trägt er grundsätzlich Kopftuch und die LDP bekämpft er mit Strafanzeigen.
Korruption und Vetternwirtschaft sind oft die Schwäche der Starken, deshalb liest Kamiwaki viel Zeitung und greift Berichte über verdächtige Geldflüsse auf. Mehr als 100 Anzeigen hat er seit Ende der Neunzigerjahre erstattet. Seine jüngste folgte einer Recherche der Roten Fahne, der Parteizeitung der Kommunistischen Partei Japans. Diese Anzeige löste den aktuellen Schmiergeldskandal aus. Wegen Kamiwaki steckt die LDP also in der Vertrauenskrise. Zufrieden ist er trotzdem nicht.
Die LDP ist ein Bündnis verschiedener konservativer Kräfte. 1955 wurde sie gegründet, um Japan vor linken Strömungen zu bewahren. Das tut sie seither derart nachhaltig, dass sie in den vergangenen 69 Jahren fast immer die Regierung stellte. Für den Rechtsprofessor Kamiwaki steht sie für eine Gesetzgebung, die nicht zu Japans demokratischer Verfassung von 1947 passt. Bis heute sieht er „nicht wenige“ unter den LDP-Parlamentariern, die der alten Kaiserzeit vor 1945 nachtrauern, als Bürger Untertanen waren und Japan als aggressiver Partner Hitler-Deutschlands und der italienischen Faschisten in den Zweiten Weltkrieg zog.
Auch der Schmiergeldskandal ist für die LDP nur eine milde Mahnung, meint der Professor
Hiroshi Kamiwaki ist sogar ganz froh, dass Japan kein Verfassungsgericht hat wie Deutschland – denn mit ihrer Macht könnte die LDP es so besetzen, dass es nicht neutral urteilen würde. Das Wahlsystem verschafft der Regierungspartei viele Vorteile. Siege in den Wahlkreisen bestimmen die Sitzverteilung im Parlament, nicht – wie bei einer Verhältniswahl – der Anteil der Stimmen, den die einzelnen Parteien tatsächlich bekommen haben. Und der Premierminister kann das Unterhaus fast jederzeit auflösen, um kurzfristig Neuwahlen auszurufen. „Das System bildet nicht die Volksmeinung ab“, sagt Hiroshi Kamiwaki.
Ein echter Wandel müsste aus seiner Sicht den Einfluss der Wähler stärken. Aber selbst der große Schmiergeldskandal ist für die LDP am Ende nur eine milde Mahnung. Kamiwaki findet, dass die Staatsanwaltschaft zu wenigen Abgeordneten den Prozess machte. Außerdem hätte die LDP-Regierung längst Reformen durchsetzen können, die Schmiergeld-Fonds unmöglich machen. Hat sie aber nicht. Weil sie nur an sich selbst denkt? Der Rechtsprofessor Kamiwaki sieht das so.
Der alte Linke glaubt also nicht, dass die Wahl am Freitag viel ändert. Die junge Rechte ist anderer Meinung. Arfiya Eri sieht ihre LDP auf Erneuerungskurs. „Wer gewinnt, wird sein Versprechen halten, das geht nicht anders.“ Aber wie anders wird die LDP dann? Arfiya Eri sagt über ihre Partei: „Uns eint die Leidenschaft für japanische Souveränität, japanische Identität, japanisches Kulturerbe und dafür, dass wir stark bei Verteidigung und Sicherheit sein müssen.“ Es ist die alte rechte Leier. Sie wird nicht frischer dadurch, dass eine junge Abgeordnete sie aufsagt.