Japan: Atomkatastrophe:Das letzte Kommando

Sie bewegen sich inmitten radioaktiver Strahlung, erleben Explosionen, Brände und kochendes Kühlwasser. Einige Dutzend Techniker versuchen im havarierten Atommeiler Fukushima-1, das Schlimmste zu verhindern: die nukleare Explosion. Viel Zeit bleibt ihnen nicht mehr.

Patrick Illinger und Christopher Schrader

Die Arbeit der 50 verbliebenen Atom-Techniker in der zunehmend beschädigten Reaktoranlage von Fukushima 1 muss man sich mittlerweile vorstellen wie in einem düsteren Endzeitfilm. Die meiste Zeit halten sie sich wahrscheinlich in dem vermeintlich vor Strahlung halbwegs geschützten Kontrollraum auf. Nach draußen gehen sie, wenn überhaupt, nur noch dicht eingepackt in Schutzanzügen, das Gesicht hinter Maske und Atemschutz. Rund um die Reaktoren herrschen Zerstörung und Chaos.

Webcam zeigt Rauch über AKW Fukushima 1

Rauch über dem Kernkraftwerk Fukushima-1. Noch etwa 50 Arbeiter halten sich in dem Reaktor auf. Sie werden in Japan bereits als Helden gefeiert.

(Foto: dpa)

Es ist nicht einmal mehr sicher, ob die Arbeiter noch in der Lage sind, Wasser oder Kernreaktionen hemmende Borsäure in die verkohlten und geborstenen Reaktorruinen zu leiten. Zwischendurch messen sie die Strahlenwerte. Sie sind erschreckend, besonders für sie selbst, die unmittelbar davon betroffen sind. Auch in den angrenzenden Gebäuden steigt die Belastung. Manchmal erfährt die Welt diese Werte. Der Arbeitgeber der Fünfzig, die Betreibergesellschaft Tepco, spricht von 800 Millisievert pro Stunde. Das ist vier Millionen mal so viel wie die natürliche Strahlung. Aber wer weiß, ob das stimmt.

In Tokio, unweit der U-Bahn-Station Uchisaiwaicho, fassen derweil die Mitarbeiter des Verbandes der japanischen Atomindustrie (JAIF) die Lage in Fukushima 1 in handlichen Tabellen zusammen. Von links nach rechts sind die sechs Blöcke des Kraftwerkskomplexes zu sehen, von oben nach unten ist der Zustand der wichtigsten technischen Anlagenteile skizziert. Die unterlegten Farben zeigen an, wie die Situation einzuschätzen ist. Rot steht für schwerwiegende Probleme, gelb verdient große Aufmerksamkeit, grün zeigt beruhigende Daten, weiß ist eine unbewertete Information. Schon ein kurzer Blick zeigt, wie bedrohlich alles ist.

Seit Tagen werden immer mehr Felder der Tabelle rot. Das letzte Mal wäre die Tabelle komplett grün gewesen, als es keinen Grund gab, sie aufzustellen: vor dem Erdbeben, vor dem vergangenen Freitag- in einem früheren, dem Gefühl nach lange vergangenen Zeitalter.

Die extrem komprimierte Information der Atomlobbyisten verschleiert nur notdürftig das Grauen, das sich hinter den Einträgen verbirgt und das die letzten verbliebenen 50 Arbeiter Tag für Tag hautnah erleben - und das sich mittlerweile auch in den Büros des Industrieverbandes breit gemacht hat. Denn in den Blöcken 1 bis 3, die zum Zeitpunkt des Erdbebens am Netz waren, sind Brennelemente beschädigt, vermutlich teilweise geschmolzen, vielleicht danach wieder erstarrt. Die Gebäude der Reaktoren 1 und 3 sind weitgehend zerstört, genau wie die Hülle des Blocks 4. Bilder der Anlage erinnern inzwischen an das World Trade Center in Manhattan am 11.September 2001. Nur dass das eigentlich Schreckliche in Fukushima 1 womöglich erst noch passiert.

Die Tabelle zeigt aber auch, dass die Mitarbeiter des Atomverbandes längst nicht alles über die eigenen Anlagen wussten - und jetzt täglich dazulernen. Erst seit Dienstagabend Ortszeit zum Beispiel gibt es auf der Tabelle eine Zeile über den Zustand der Lager für gebrauchte Brennelemente. Es sind zehn Meter tiefe Wasserbecken, die aus praktischen Gründen im Dachgeschoss der Reaktorgebäude angeordnet sind - dort, wo die Blöcke 1, 3 und 4 mittlerweile Dach und Seitenwände verloren haben. Als die Felder zum ersten Mal in der Tabelle auftauchten, war der Hinweis "No Info" noch weiß unterlegt, inzwischen ist das alles gelb eingefärbt. Größte Aufmerksamkeit! Und bei zwei Blöcken, den Einheiten 3 und 4, hat der Text einen roten Hintergrund. Er lautet: "Kühlwasserstand niedrig, bereiten Nachfüllen vor".

Inmitten der Strahlung

Das alles wissen die letzten verbliebenen Spezialisten in dem Kontrollraum des Kernkraftwerks vielleicht nicht einmal. Auch nicht, dass ihre mutige Arbeit mit einem Federstrich als weniger gefährlich eingestuft ist. Das japanische Gesundheitsministerium erhöht einfach den erlaubten Strahlungsgrenzwert für die Arbeiter von 100 auf 250 Millisievert pro Jahr, nach Angaben der New York Times ist das das Fünffache dessen, was amerikanische Kraftwerksarbeiter abbekommen dürfen.

Japan: Atomkatastrophe: Das Gebiet um den Reaktor Fukushima-1 wurde evakuiert, die Menschen werden auf Strahlung getestet. Wie es den letzten Arbeitern im Meiler geht, kann man nur ahnen.

Das Gebiet um den Reaktor Fukushima-1 wurde evakuiert, die Menschen werden auf Strahlung getestet. Wie es den letzten Arbeitern im Meiler geht, kann man nur ahnen.

(Foto: AP)

Die Verantwortlichen von Tepco und ihre Helfershelfer haben harte Stunden hinter sich. In der Nacht zu Mittwoch deutscher Zeit haben sie offenbar versucht, Löschwasser und Borsäure von Hubschraubern aus auf die Reaktorblöcke zu schütten. Das ist ein sicheres Anzeichen dafür, dass den Bodentruppen in der Schlacht gegen das Atom die Waffen ausgehen. Dass die Hubschrauber ihren Einsatz wegen starker Strahlung abbrechen mussten, lässt zudem darauf schließen, wie blank das radioaktive Innenleben der Meiler von Fukushima 1 bereits liegt. Offenbar verselbständigen sich die rauchenden Überreste der einst tadellos laufenden Reaktoren. Womöglich mutieren sie in den kommenden Stunden oder Tagen gar zu einer nuklearen Zeitbombe.

Gerade dem Abklingbecken im Block 4 gilt am Mittwoch die besondere Sorge der Männer. Die Pools in den Reaktoren dienen dazu, verbrauchte Brennelemente zu verwahren, bis ihre Nachwärme und Radioaktivität halbwegs abgeklungen ist - was einige Jahre dauern kann. In dieser Zeit benötigen die etwa vier Meter hohen, schlanken Elemente ständige Kühlung, nicht ganz so intensiv wie der Reaktorkern, aber immerhin. Auch diese Kühlung hat in den Blöcken 3 und 4 versagt - oder ist zumindest eingeschränkt. Übrigens zeigen auch die abseits gelegenen, neuesten Meiler mit den Nummern 5 und 6 steigende Temperaturen und fallende Wasserstände in den Abklingbecken. Die entsprechenden Felder der Tabelle des Atomverbands in Tokio sind nicht zufällig gelb hinterlegt. Sie verdienen mehr als nur große Aufmerksamkeit.

In dem Pool von Block 4 steht sogar eine ganze, erst vor kurzem aus dem Reaktorkern ausgelagerte Garnitur der Brennstäbe. Sie enthalten wie am Ende ihrer Nutzung unvermeidlich das maximale nukleare Inventar, die größte überhaupt möglich Menge an strahlenden Spaltprodukten. Zweimal hat es in dem Lager Feuer und Explosionen gegeben, das Wasser im Becken kochte, verkochte. Offenbar sind viele der Brennelemente beschädigt, Bruchstücke von ihnen sollen aus dem Gebäude geschleudert worden sein.

Kein Zweifel: Die Arbeiter in der Reaktoranlage sind direkter Strahlung ausgesetzt. Sie trifft den gesamten Körper. Vor allem die Gamma-Strahlen sind höchstgefährlich, sie ähneln Röntgenstrahlen, haben nur eine viel höhere Energie. Die Hülle eines Schutzanzugs durchdringen sie mühelos, auch Betonmauern oder die Pilotenkanzel eines Hubschraubers können sie nicht aufhalten. Vor allem, wenn das Fluggerät über dem offenen Schlund eines explodierten Reaktors schwebt und die Piloten der Quelle der Strahlung direkt ins Auge blicken können.

Draußen auf dem Land ist von dieser direkten Strahlung derzeit aber noch wenig bis nichts zu spüren. Dort könnte problematisch werden, was Europa nach dem Unfall von Tschernobyl erleben musste: Das Niederregnen flüchtiger Spaltprodukte, die als Dampf, Rauch oder Staub aus den geborstenen Reaktoren aufsteigen und über das Land wehen. Die radioaktiven Reste der Uranspaltung sind vor allem Alpha- oder Beta-Strahler. Sie setzen bei ihrem Zerfall atomare Partikel frei. Anders als die Gamma-Strahlen lassen sich insbesondere Alpha-Strahlen leicht abschirmen, etwa mit einem Schutzanzug. Ihre Tücke entfalten sie jedoch, wenn sie in den menschlichen Körper gelangen durch Nahrung oder Atemluft. Dort treffen sie das organische Gewebe und können Krebs auslösen. Während das Jod-131 seine Gefährlichkeit innerhalb weniger Wochen verliert, sind Cäsium und Strontium mit einer Halbwertszeit von rund 30 Jahren noch Jahrzehnte nach einer Reaktorkatastrophe vorhanden.

Aus diesem Grund sind die offiziell gemeldeten Strahlungswerte aus den Provinzen Japans bisher nicht alarmierend. Auch wenn beispielsweise in Ibaraki die Grundstrahlung derzeit bei rund dem 15-fachen des natürlichen Wertes liegt: Die Schwelle akuter Gefährdung ist - anders als direkt in den betroffenen Kraftwerken - nicht erreicht.

Angst vor der Kettenreaktion

Die Helfer in Fukushima sind derweil von einer Sorge getrieben: dass in dem Becken des Blocks 4 die nukleare Kettenreaktion wieder anspringen könnte. Da die Brennelemente offenbar kaum noch von der Umwelt abgeschirmt sind, wäre es so, als würde man einen Kernreaktor im Freien betreiben. Das würde die Wärmeentwicklung und die hohe Strahlung weiter steigern. Und bedeutete auch, dass kaum noch Aussicht besteht, das Lager erfolgreich zu kühlen. Vermutlich greifen die Betreiber deshalb am Mittwoch zu letzten, hilflos wirkenden Maßnahmen: der Aktion mit den Hubschraubern. Oder der Überlegung, mit Wasserwerfern der Polizei noch etwas zu retten.

Absurd angesichts des weißen Dampfs, der Mittwochmorgen aus den Blöcken 2 und 3 aufsteigt. Bisher sah es so aus, als seien die Techniker irgendwie noch in der Lage, die Anlage zu steuern, indem sie radioaktiv belasteten Dampf abließen. Diese Fähigkeit scheinen sie verloren zu haben. Experten, die den verzweifelten Kampf aus der Ferne interpretieren, meinen, dass der weiße Dampf durch ein Leck im sogenannten Containment entweiche, also durch eine Öffnung in der aus Stahlbeton gefertigten äußeren Sicherheitsbarriere um den Reaktorkern. Immerhin: Jedes auch nur kleine Loch mindert den Druck, den die Stahlbetonschicht auszuhalten hat.

Es scheint aber auch Positives zu geben. Offenbar funktioniert die Notkühlung der abgeschalteten Reaktorkerne in den Blöcken 1 bis 3 trotz mancher Rückschläge einigermaßen stabil. Die vier Meter langen Brennelemente stehen am Mittwochnachmittag den Informationen zufolge meist etwa zur Hälfte im Meerwasser, das von den letzten 50 Aufrechten in die Reaktoren gepresst wird. Und eines ist sicher: Je länger die Helfer die vollständige Kernschmelze verhindern können, desto besser werden die Aussichten, die allerschlimmste Variante der Katastrophe abzuwenden. Denn die Nachwärme des Uranbrennstoffs nimmt ständig ab.

Eines ist aber auch klar: Die Männer von Fukushima setzen ihr Leben ein, um ihre Landsleute zu retten. Verlieren sie den Kampf, dürfte die Strahlung so stark ansteigen, dass niemand mehr in Fukushima 1 arbeiten kann. Auf Jahre, Jahrzehnte hinaus.

Die Männer werden es so oder so nicht mehr erleben.

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