Japan: Das Schicksal der Flüchtlinge:Der Luxus einer heißen Tasse Tee

Das Leben der Flüchtlinge aus den überfluteten und verstrahlten Orten um Fukushima bessert sich nur langsam. Jetzt kommt eine neue Angst hinzu: Die Furcht vor der Arbeitslosigkeit.

Christoph Neidhart

Zehn Tage haben die 13-jährige Reika und ihre ältere Schwester Shikari in der Super-Arena von Saitama, einem nördlichen Vorort von Tokio, gehaust. Am Donnerstag konnten die zwei Mädchen und ihre Eltern in ein altes Schulhaus in Kazo umziehen, eine ländliche Gemeinde 20 Kilometer weiter nördlich. Für die Familie ist das der dritte Umzug seit dem Tsunami.

Japan Struggles To Deal With Nuclear Crisis And Tsunami Aftermath

In der Super-Arena von Saitama lebten vorübergehend 2500 Flüchtlinge - ohne jegliche Privatsphäre.

(Foto: Getty Images)

Geduldig warten sie mit aufgerollten Wolldecken, zwei Sporttaschen und einer Plastiktüte, bis sie an der Reihe sind. 2500 Flüchtlinge waren in der Arena untergebracht, 900 konnten am Mittwoch das Stadion verlassen, 900 am Donnerstag. Die restlichen haben anderswo eine Bleibe gefunden.

Die Klassenzimmer, in denen jeweils mehrere Familien zusammen wohnen werden, sind mit Tatami-Matten ausgelegt, es gibt heißes Wasser und man wird kochen können. Das gilt jetzt bereits als Luxus.

Die ersten Flüchtlinge sind von den Kindern von Kazo empfangen worden, sie bildeten ein Spalier mit Willkommensbanner. Wie lange sie in diesem erneuten Provisorium bleiben werden, wissen sie nicht. Die Präfektur Fukushima hat versprochen, alle Jugendlichen aus der Katastrophenzone in behelfsmäßigen Internate einzuschulen, erzählt die Mutter. Sie und ihr Mann müssten sich nun Arbeit suchen. "Irgendwo."

In fast 300 Schulgebäuden im Erdbebengebiet wird es erst einmal keinen Unterricht geben; fast die Hälfte wird als Notunterkunft gebraucht, 70 hat der Tsunami weggespült. Die anderen müssen repariert werden. Die 300 Grundschüler, die bisher in der Super-Arena ausharren, werden in Koza eingeschult.

Reika und Shikari stammen aus Futaba, dem 6900-Seelen-Dorf hinter dem Kernkraftwerk Fukushima1. Etwa die Hälfte der Bewohner sind in den Fluten umgekommen oder werden vermisst. Viele Leichen sind noch nicht geborgen, die Truppen kommen wegen der Strahlung nicht. Und viele Helfer fürchten auch, die Toten seien kontaminiert. Die meisten Bewohner von Futaba waren erst nach Kawamata und Iitate gebracht worden. Doch letzteres ist, obwohl außerhalb der 30-Kilometer-Zone, verstrahlt.

Sie fühlen sie von der Regierung in Tokio hängengelassen, auch deshalb entschied der Bürgermeister von Futuba, Katsutaka Idogawa, die Überlebenden seines Städtchens nicht zu trennen. Die Stadt Saitama bot ihm ihr Stadion bis Ende März als Notunterkunft an, mit 37.000 Plätzen ist das die größte Sporthalle im Raum Tokio. Idogawa organisierte 40 Busse. Im Konvoi kamen die Überlebenden von Futaba nach Saitama, das jüngste Kind zwei Monate alt, viele Rentner sind über 80, manche im Rollstuhl. Einige Familien, auch Reika und Shikari mit ihren Eltern, folgten mit dem eigenen Auto.

Angst vor der Armut

Gemeindebeamte von Futaba richteten im Stadion eine notdürftige Ortsverwaltung ein. Sie teilten die Flüchtlinge in Gruppen ein, stellten ihnen Ausweise und Kopien von Versicherungsscheinen aus. Und sie organisierten einen Suchdienst, um die Familien zusammenzuführen. Binnen Stunden wurden Computer eingerichtet, Kabel gelegt, Telefone angeschlossen. "Am Wochenende hatten wir hier mehr als tausend freiwillige Helfer", sagt Hisaaki Sato, ein Design- und Event-Planer, der sein Büro verließ und in die Super-Arena kam, um die Freiwilligenarbeit zu organisieren.

Wie können 2500 Menschen ohne warme Kleider, ohne Wolldecken und ohne Nahrung in einem Sportstadion überleben? Ein Aufruf an die Bevölkerung von Saitama brachte Tausende Decken, Jacken, Kissen, Boxen mit Papiertaschentüchern, Gesichtsmasken, Spielzeug und Schulbücher. Über Nacht organisierten die Freiwilligen die Verpflegung der 2500 Menschen. An einer Säule stapelten sie halbierte Pappschachteln als Tabletts.

Dreimal täglich, um neun Uhr, mittags und um 18 Uhr nahm jeder Flüchtling einen Karton und stellte sich in die Schlange. Am ersten Tisch gab es Getränke, dann Miso-Suppe, Reis und was sonst in ein Bento gehört, wie die Japaner ihre Lunchbox nennen. Vor allem Fisch, Gemüse, allerdings kalt.

"Aber immer Bento..." sagt die Mutter der Mädchen. "Das Essen ist ausgezeichnet", meint dagegen ein 55-jähriger Zimmermann. "Aber sonst ist es hier fürchterlich." Er konnte nicht schlafen, es sei laut, die Kleider, die er erhielt, passten ihm nicht. Er hat keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Arbeit werde er sicher keine finden. "Nicht einmal die Jungen finden was." Er möchte wieder nach Hause, wie die meisten aus Futaba, aber er bezweifelt, dass er den hochgradig verstrahlten Ort je wieder sehen wird.

Zu schaffen macht vielen Flüchtlingen auch der völlige Mangel an Privatsphäre. Helfer Sato hat deshalb hüfthohe Papp- und Plastikwändchen organisiert. "Aber der Lärm bleibt." Und die Leute konnten nicht baden, dabei ist das tägliche Bad den Japanern äußerst wichtig. Dafür waren neun Friseure unter den Flüchtlingen, sie haben Hunderten die Haare geschnitten. Ärzte aus Saitama improvisierten eine Praxis im Stadion, es gab eine Krankenstation und einen Kindergarten.

Am Eingang zum Stadion hängt ein Ortsplan von Koza, die Grundschule, der Bahnhof und einige Ämter sind markiert. Und das öffentliche Bad, nachdem sich alle sehnen. Anwälte bieten Hilfsdienste an, ein paar Mietwohnungen sind frei. Und eine einzige Hilfsarbeiter-Stelle. 800.000 Überlebende, wird geschätzt, haben ihre Arbeit verloren. Auch Reikas und Shikaris Vater, der im Kernkraftwerk Fukushima I arbeitete. "Natürlich haben wir Angst vor der Strahlung", sagt die Mutter. "Die hatten wir auch vorher schon. Aber das war unser Leben." Schließlich habe damals Tepco zumindest einen Lohn bezahlt.

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