Süddeutsche Zeitung

Coronavirus in Japan:Hilfe, die beschämt

In Japan gilt es als gesellschaftliches Stigma, staatliche Unterstützung zu erhalten. Der Regierung in Tokio ist das nur recht. Doch die Corona-Krise bringt immer mehr Menschen in Not - und die mangelnde Sozialpolitik wird offenbar.

Von Thomas Hahn, Tokio

Die Bedürftigen sind längst da. Still und mit vorbildlichem Hygiene-Abstand warten sie in der Schlange, bis in der Unterführung beim Rathaus von Tokio die Non-Profit-Organisation Moyai mit der Lebensmittelausgabe beginnt. Es ist ein kalter Samstagnachmittag, zehn vor zwei. Gleich geht es los. Moyai-Geschäftsführer Ren Ohnishi ist zufrieden. Vergangene Woche störten die Sicherheitskräfte des Rathauses. Diesmal schauen sie nur zu, obwohl sich die Schlange wieder auf dem Grundstück der Präfekturverwaltung befindet. "Wir haben gewonnen", sagt Ohnishi. Er lacht.

Die Ausgabe verläuft ruhig und konzentriert. Die Ersten, die eine Plastiktüte mit Obst, Instantnudeln und Hygiene-Artikeln bekommen, eilen zurück ans Ende der Schlange, um vielleicht noch eine zu bekommen. Nach einer knappen Viertelstunde sind alle Plastiktüten verteilt. 200 Stück. "Seit April haben wir die Menge verdoppelt", sagt Ohnishi, "wegen der Pandemie ist der Bedarf gestiegen." Ein Mann, der seit November arbeitslos ist, sagt: "Wegen dieser Organisation habe ich angefangen, an Gott zu glauben."

Sozialpolitik ist ein unterbelichtetes Ressort in Japan. Aber es könnte sein, dass sich das in der Pandemie ändern muss. Lange ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt ganz gut durch die Corona-Krise gekommen. Relativ niedrige Infektionsraten, relativ wenige Tote. Und um Pleiten und höhere Arbeitslosigkeit zu verhindern, hat die rechtskonservative Regierung im Verbund mit der Nationalbank ihre ultralockere Geldpolitik in historisch üppige Nachtragshaushalte umgemünzt. Viele Billionen Yen sind schon geflossen, vor allem in die Wirtschaft. Der Staat hat Gehälter übernommen, schnelle Darlehen gewährt, mit Gutscheinen den Konsum angekurbelt.

Allerdings scheint Japans Regierung das Virus unterschätzt zu haben. Wegen zuletzt hoher Infektionszahlen funktioniert manche Wirtschaftshilfe nicht mehr. Die Tourismus-Förderkampagne "Go to Travel" ist unterbrochen. In elf Präfekturen gilt der Notstand. Die neue Welle dürfte für viele Betriebe das Aus bedeuten. Der Druck auf Japans Sozialsysteme wächst. Sollte die Pandemie auch noch die auf diesen Sommer verschobenen Olympischen und Paraolympischen Spiele verhindern, fiele eine Konjunkturspritze aus, die derzeit noch der Kern optimistischer Wirtschaftsprognosen für 2021 ist.

Der Armutsbekämpfer Ren Ohnishi, 33, ist ein kultivierter Regierungskritiker. Er lehrt an der Waseda-Universität Sozialfragen, ist Mitglied einer staatlichen Aktionsplattform für Nachhaltigkeit, und Lobbyarbeit betreibt er mit japanischer Sachlichkeit. Seine Eltern haben einst in Europa gelebt. Er kennt die Kultur der Sozialdemokratie und misst daran die ultrakonservative Weltsicht des japanischen Politik-Establishment.

Diese besagt: Der Staat muss der Wirtschaft dienen und alle anderen Kosten klein halten. Arbeit ist relativ billig in Japan. Tokio hat den höchsten Mindestlohn mit 1013 Yen (rund 8 Euro) pro Stunde, in entfernten Präfekturen wie Okinawa zahlt man 790 Yen (6,20 Euro). In allen Berufen gibt es befristete Billiglohn-Verträge. "Rund 40 Prozent der arbeitenden Bevölkerung haben solche", sagt Ohnishi, "bei den Frauen sind es mehr als 50 Prozent." In Krisenzeiten verlieren sie als Erste ihre Jobs und geraten in Not. "Als die Konjunktur gut war, hat man das Problem nicht gesehen", sagt Ohnishi. Fast alle hatten Arbeit. "Aber jetzt haben wir Corona, und es wird bloßgestellt."

Wer in Armut fällt, sucht wiederum nicht unbedingt staatliche Hilfe. Ohnishi sagt: "Sozialhilfe zu bekommen, betrachten viele Leute als eine Art Stigma." Systembedingt, wie er findet. Jijo, Kyojo, Kojo - so lautet der Dreisatz des japanischen Solidaritätsprinzips: Wer in Not ist, muss erstmal Selbsthilfe (Jijo) leisten. Wenn die nicht reicht, muss Hilfe von Familie oder Freunden (Kyojo) kommen. Erst wenn auch die ausfällt, gibt es staatliche Hilfe (Kojo).

Premierminister Yoshihide Suga weist immer wieder ausdrücklich auf diese Leitkultur hin. In der Praxis führt sie zu einem entmutigenden Sozialsystem. Die Voraussetzungen für Sozialhilfe sind streng, die Antragsverfahren kompliziert. "Die Behörden informieren auch nicht gut darüber", sagt Ren Ohnishi. Und wenn sie doch den Bedarf erkennen, recherchieren sie erst mal, ob nicht jemand in der Familie den Unterhalt übernehmen könnte.

Nach Daten des Arbeitsministeriums beziehen derzeit 1,6 Prozent der Menschen in Japan Sozialhilfe, davon sind 50 Prozent ältere Menschen. "70 bis 80 Prozent derer, die Anspruch hätten, verzichten darauf", sagt Ohnishi; diese Zahlen hat er vom nationalen Anwaltsverband JFBA. Die Regierung scheint daran nicht viel ändern zu wollen. Die Ausgaben des Staates für soziale Sicherheit zu senken, gehörte zu den Wahlversprechen, mit denen Ex-Premier Shinzō Abe 2012 die Mehrheit für seine nationalistische LDP zurückeroberte.

Wie lange kommt Japan damit durch? Bisher hat die Regierung die Zahl der Sozialhilfeempfänger erfolgreich klein gehalten. Und zwar mithilfe billiger Darlehen, mit denen Bürgerinnen und Bürger über sieben Monate bis zu 1,4 Millionen Yen, etwa 11 000 Euro, bekommen können. "Bis zum 19. Dezember haben 1,4 Millionen Menschen diesen Service genutzt", sagt Ren Ohnishi, 2019 waren es nur 8000. Außerdem zahlte die Regierung jedem Bürger, jeder Bürgerin und jedem Kind eine einmalige Corona-Hilfe von 100 000 Yen (790 Euro).

Beides, Darlehen und Geldgeschenke, sollten die Leute durch die Pandemie bringen, ohne die Sozialkasse zu stark zu belasten. Aber die Krise will nicht enden. Was kommt als Nächstes? In der LDP diskutiert man ein bedingungsloses Grundeinkommen von 70 000 Yen, 550 Euro. Regierungsberater und Ex-Innenminister Heizō Takenaka empfiehlt, damit das komplizierte Sozialsystem mit Miethilfen, Arbeitslosengeld und anderem zu ersetzen. Und sonst? Läuft die Sozialfrage eher am Rande. Armut gilt in Japan als ein Problem unausgeglichener Vielfaltsgesellschaften. Im geschlossenen Inselstaat-Kollektiv beklagt sich ja kaum jemand. Viele Sozialverbände halten still, weil die Regierung sie mit bezahlten Aufträgen auf ihre Seite zieht.

Ren Ohnishi vom unabhängigen Hilfeverein Moyai warnt davor, sich zu sicher zu fühlen. Im März endet das Fiskaljahr, dann dürfte es neue Pleiten geben, neue Arbeitslose. Und keiner weiß, wie es weitergeht in der Pandemie, zumal in Japan Impfskepsis verbreitet ist. Auch wenn viele das Risiko wegschieben: "Armut kann jeden treffen", sagt Ren Ohnishi, "das Problem ist alt. Aber in Japan sieht es irgendwie neu aus."

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