Im Juni vor drei Jahren übergoss sich am Bahnhof Shinjuku ein Mann mit Benzin und zündete sich an. Er wollte ein Zeichen setzen für den Friedensparagrafen in der japanischen Verfassung. Premierminister Shinzo Abe war damals im Begriff, diesen neu zu interpretieren - oder "auszuhöhlen", wie der Friedensaktivist, der trotz schwerster Verbrennungen überlebte, meinte. Die Neuauslegung des Paragrafen erlaubte Japans Armee die sogenannte kollektive Selbstverteidigung. Demnach darf Japan an Kriegseinsätzen irgendwo auf der Welt zur Verteidigung eines Verbündeten - etwa der USA - teilnehmen, auch wenn es nicht selbst unmittelbar bedroht ist. Nach dem klaren Wahlsieg von vergangener Woche und der erreichten Zweidrittelmehrheit könnte Abe nun die gewünschte Änderung der Verfassung formal einleiten.
Mit Paragraf 9, dem sogenannten Friedensparagrafen, "verzichtet die japanische Nation für immer auf das souveräne Recht eines Staates, Krieg zu führen" - und auch auf jede Drohung, internationale Konflikte mit Gewalt zu lösen. Zu diesem Zweck, so der zweite Absatz, soll Japan "nie mehr Land-, See- oder Luftstreitkräfte unterhalten". Allerdings begann Tokio schon 1954, sieben Jahre nach Inkrafttreten seiner Verfassung, Streitkräfte aufzubauen, die heute zu den größten der Welt gehören. Sie heißen bloß nicht "Armee", sondern "Selbstverteidigungskräfte".
Japan:Keine Alternative zu Abe
In Japan gewinnt das Regierungsbündnis aus Liberaldemokratischer Partei und Komeito die Wahl. Premier Abe strebt nun eine Verfassungsänderung an.
Nach der alten, bis 2014 geltenden Interpretation des Friedensparagrafen durfte die japanische Armee ihr Land nur im Fall eines bewaffneten Angriffs durch ein anderes Land und nur auf dem eigenen Territorium verteidigen. Seit 1989 beteiligt sie sich außerdem an UN-Friedenseinsätzen. Die meisten Verfassungsrechtler akzeptierten diese Auslegung, Abes Neu-Interpretation hingegen lehnen sie fast einhellig als Verfassungsbruch ab.
Ein halbes Jahr nach der Selbstverbrennung von Shinjuku zündete sich im Tokioter Hibiya-Park ein weiterer Pazifist an. Selbstverbrennungen sind ein Mittel der Schwachen, im Vietnamkrieg demonstrierten buddhistische Mönche als sterbende Fackeln für den Frieden. Die beiden Selbstverbrennungen von Tokio zeigen, wie ernst es manchen Japanern mit dem Pazifismus ist. Aber auch, wie aussichtslos ihre Sache ist. Die Regierung war nie pazifistisch, sie versuchte sogar, Nachrichten über die Selbstverbrennungen zu unterdrücken.
Bis heute ist umstritten, wie der Friedensparagraf in die Verfassung von 1947 gelangte. Sicher nicht aus Idealismus. Der Oberbefehlshaber der US-Besatzung, General Douglas MacArthur, hatte im Februar 1946 eine Gruppe Amerikaner beauftragt, eine demokratische Verfassung für Japan zu entwerfen. Japanische Nationalisten meinen deshalb, die USA hätten dem Land Paragraf 9 aufgezwungen. MacArthur dagegen schrieb in seinen Memoiren, die Idee eines Antikriegsparagrafen stamme vom damaligen Premier Kijuro Shidehara. Dieser war kein Pazifist, sondern verfolgte laut MacArthur zwei Ziele: Erstens könnte Japan der Welt so zeigen, dass es keine Angriffskriege mehr führen werde. Zweitens sollte das Armeeverbot verhindern, dass die Militaristen, die Japan ins Verderben gestürzt hatten, an die Macht zurückkehrten. Zu diesen Militaristen gehörte auch Abes Großvater Nobosuke Kishi, im Krieg Munitions- und später Premierminister. Wenn Japan keine Armee habe, so Shideharas Überlegung, dann hätten die Militaristen keine politische Basis. Außerdem könne das kriegszerstörte Japan sich den Aufbau eines Heeres nicht leisten.
Es gibt Quellen, die dieser Version widersprechen. Unbestritten ist jedoch, dass der Antikriegsartikel zur Basis für die Yoshida-Doktrin wurde. Shigeru Yoshida, bis 1954 japanischer Premier, wollte auf eine Wiederbewaffnung verzichten und die Außenpolitik seines Landes Washington unterstellen. Im Gegenzug sollten die USA Nippons Sicherheit garantieren. Auch Yoshida war kein Pazifist. Er meinte, wirtschaftlich komme Japan schneller wieder auf die Beine, wenn es sich nicht um seine Verteidigung kümmern musste.
In den ersten Nachkriegsjahren wollte Washington die Japaner zu friedliebenden Demokraten erziehen. Davon rückte es ab, als die Kommunisten 1949 in China die Macht ergriffen und ein Jahr später der Koreakrieg ausbrach. Nun brauchte Washington Japan als militärischen Verbündeten. Seither lehnen die USA den Friedensparagrafen ab. Über die Jahre haben sie immer wieder gefordert, Japan müsse mehr für seine Verteidigung tun. Im Allianzvertrag zwischen Washington und Tokio heißt es zwar, ein Angriff auf Japan komme einem Angriff auf die USA gleich, doch Nippon muss sich heute auch selber verteidigen können.
Paragraf 9 war oft nützlich, etwa um sich dem Druck der Amerikaner zu entziehen
Seit den Neunzigerjahren haben japanische Politiker mehrmals versucht, Paragraf 9 zu revidieren oder abzuschaffen. Zunächst Leute, die Japan enger in die UN einbinden wollten - die Wirtschaftsgroßmacht sollte auch sicherheitspolitisch Verantwortung übernehmen. Japans Nationalisten sehen seine Streichung als Schritt hin zu einer Emanzipation von Washington. Abe argumentiert mit der Bedrohung durch Nordkorea und dem Erstarken Chinas. Außerdem will er mehr Symmetrie in der Allianz mit den USA.
In der Bevölkerung sehen das viele kritisch. Eine 78-jährige Passantin in Tokio etwa spricht sich gegen jede Verfassungsänderung aus. Sie erklärt das mit Hiroshima, Nagasaki und dem Feuersturm auf Tokio. So etwas dürfe nie mehr passieren. "Wir Frauen sind gegen den Krieg", sagt sie. Viele Männer aber seien stolz auf die Armee, vor allem ältere. Auch ihr Mann. "Als wir in Hawaii waren, besuchte er Pearl Harbor. Er bewundert, wie strategisch geschickt Japan die US-Navy überfiel."
In Japan hat es seit dem 19. Jahrhundert zahlreiche prominente Pazifisten gegeben, eine pazifistische Nation war Nippon gleichwohl nie, eher eine isolationistische. Vom 17. Jahrhundert bis 1895 hat Japan keine Kriege geführt, sondern sich abgeriegelt. Es folgte ein halbes Jahrhundert des Expansionismus und der Kriege, die Japan mehr als drei Millionen Menschenleben kosteten und Zerstörung, Leid und Besatzung über das Land brachten. Paragraf 9 soll verhindern, dass sich dergleichen wiederholt, er ist eher ein Isolations- als ein Pazifismus-Paragraf. Pazifisten sind auch in Japan eine Minderheit.
Dass viele Japaner ihre Nation gleichwohl für pazifistisch halten, geht auch auf den Havard-Japanologen Edwin Reischauer zurück, von dem es hieß, er verstehe die Japaner besser als sie sich selbst. Reischauer schrieb 1977, die meisten Japaner hätten "antimilitaristische und pazifistische Gefühle", die sich in einer Sehnsucht nach "unbewaffneter Neutralität" äußerten. Damit popularisierte er die Idee von der "pazifistische Nation", die viele Japaner in ihr Selbstbild aufgenommen haben.
Der Friedensparagraf war für Japan durchaus nützlich. Mit dem Hinweis auf die Verfassung konnte sich das Land dem Druck der Amerikaner stets entziehen, mit in ihre Kriege zu ziehen. In Vietnam kamen 521 australische, 339 koreanische und 33 neuseeländische Soldaten um, in Afghanistan 42 Australier und mehr als 50 Deutsche. Doch seit 1945 ist kein einziger Japaner gefallen. Dass das so bleibt, ist vorrangiges Ziel derer, die am Friedensparagrafen festhalten. Sie befürchten, Washington könnte Tokio künftig in militärische Abenteuer hineinziehen.
Mit seiner Neuinterpretation hat Abe den Friedensparagrafen ausgehöhlt. Seine Bedeutung ist heute vor allem symbolisch. Das wäre freilich auch seine formelle Abschaffung; nicht zuletzt für Abe persönlich, der damit das Werk seines Großvaters vollenden würde. In der Praxis hat sich seit 2014 kaum etwas geändert. Tokio hat seine internationale Militärpräsenz sogar reduziert. Im Frühjahr zog es seine Friedenstruppen aus dem Südsudan ab.