Japan:Als der bunte Rauch verflog

Smog, verseuchter Schlamm - Kitakyūshū war einmal der giftigste Ort des Landes. Doch wenn sich im Mai dort die G-7-Energieminister treffen, kommen sie in eine grüne Vorzeigestadt.

Von Christoph Neidhart, Kitakyushu

Die Dōkai-Bucht war tot, das Meerwasser leuchtete orange. Seit 1956 durfte hier niemand mehr fischen. Bis in die Siebzigerjahre hinein lagerte sich eine zwei Meter dicke Schicht Giftschlamm auf dem Meeresgrund ab, der unter anderem Kadmium, Quecksilber, Blei und Arsen enthielt. Aus den Schloten der Hochöfen und Chemiefirmen stieg schwarzer, roter und lila Qualm auf, man nannte ihn "Regenbogenrauch". Die Kinder litten an Asthma, hatten chronisch entzündete Augen und Hautausschläge. In den Sechzigerjahren war die Stadt im Norden der Insel Kyūshū der verschmutzteste Ort Japans, vielleicht der Welt. Heute ist Kitakyūshū, obwohl dort noch immer Stahl, Keramik und Chemie produziert werden, Japans grüne Vorzeigestadt. Im Mai kommen hier die G-7-Energieminister zusammen. Die Stadt sei energiepolitisch führend, sagte vergangenes Jahr Japans Wirtschaftsminister Yōichi Miyazawa, und ein angemessener Ort für das Treffen.

Kitakyūshū verdankt diesen Wandel seinen Frauen, vor allem den Müttern im Stadtteil Tobata, bis 1963 eine eigenständige Gemeinde. Als Frauenverein kämpften sie seit den Fünfzigerjahren gegen die Verschmutzung der Luft durch "Yawata Seitetsu", wie das Stahlwerk damals hieß, das heute zu Nippon Steel gehört. Wenn sie ihre Wäsche im Freien aufhängten, wurde sie grau, bevor sie trocken war. Um Argumente zu haben, begannen die Frauen von Tobata, Luft- und Wasserproben zu nehmen. 1965 drehten sie einen Dokumentarfilm: "Wir wollen wieder einen blauen Himmel."

Die Piloten, die Amerikas zweite Atombombe abwerfen sollten, konnten die Stadt nicht sehen

Die Westinsel Kyūshū verfügt über enorme Kohlevorräte, schon deshalb hat Japan seine ersten Hochöfen 1901 hier gebaut. Über Jahrzehnte produzierte das Yawata-Werk 80 Prozent des japanischen Stahls. Die Stahlwerke waren auch für die Armee so wichtig, dass die Amerikaner das heutige Kitakyūshū zu Beginn ihrer Luftangriffe im Juni 1944 zerstörten. Im August 1945 bestimmten sie Kokura, heute das Zentrum von Kitakyūshū, zum Ziel ihrer zweiten Atombombe. Doch die Piloten, die sie abwerfen sollten, konnten die Stadt nicht sehen. Wolken und Industrie-Smog schirmten sie gegen einen Sichtangriff ab. Nach dem dritten Versuch drehte die Crew in Richtung des Ersatzziels ab: Nagasaki. Dort war das Wetter besser und die Luftverschmutzung geringer.

Gemäß einer Studie der japanischen Regierung aus dem Jahr 1970 senkten sich in den Sechzigern bis zu 98,5 Tonnen Ruß pro Tag und Quadratkilometer auf die Stadt ab. Im Dezember 1969 enthielt die Luft bis zu 830 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter Luft, das Sechsfache des damaligen Grenzwertes in Japan, fast das Zwanzigfache der heutigen EU-Grenzwerte. Auch die Schwellen für Stick- und Schwefeloxide, Kupfer, Mangan, Zink wurden um ein Vielfaches überschritten. Im weniger belasteten Tokio mussten in einer einzigen Woche im Juli 1970 8000 Menschen wegen smogbedingter Augen- und Atemwegsleiden ins Krankenhaus, viele Bäume starben.

A fire burns at a Nippon Steel Corp plant in Kitakyushu

Schwarzer Rauch über Kitakyūshū. Früher war das Alltag, heute qualmt es in der japanischen Industriestadt vor allem, wenn es brennt.

(Foto: Kyodo/Reuters)

Für Kitakyūshū gibt es keine solchen Zahlen, sicher lägen sie höher. Der Wind trug den Giftsmog auch in ferne Provinzen und bedrohte dort die Landwirtschaft. Doch der japanischen Regierung ging es, schrieb die New York Times damals, nur um das Wachstum der Wirtschaft von jährlich zehn Prozent. Sie ignoriere das Wohl der Bevölkerung, so die Times; die Regierung von Eisaku Satō, dem Großonkel von Premier Shinzō Abe, habe im Juli 1970 nur widerwillig eine "Zentrale für Maßnahmen gegen die Umweltzerstörung" geschaffen.

In Kitakyūshū erzählt man die Geschichte anders, vor allem die Männer. Als die Mütter von Tobata, entsetzt über die rußverschmierten, verschwärten Gesichtern ihrer Kinder mit ihren Messresultaten bei der Stadt und der Industrie vorstellig wurden, hätten sich Politik und Wirtschaft mit den Frauen zusammengetan, um das Leben hier gemeinsam zu verbessern, sagt Satoshi Nakasone, Direktor des Umweltmuseums. "Frauen schlägt man nichts ab." Niemand habe in Kitakyūshū vor Gericht gehen müssen, fügt er hinzu und meint damit Minamata im Süden von Kyūshū.

Dort vergiftete die chemische Fabrik Chisso von 1956 an mehr als 10 000 Menschen mit Quecksilber, 2000 schwer. Einige Opfer mussten bis 2010 vor den Gerichten um Kompensation kämpften. Nicht erklären kann der Museumsdirektor allerdings, wieso es zwei Jahrzehnte dauerte, bis die Frauen Gehör fanden. Ein pensionierter Stahlwerks-Angestellter, der im Museum Kindern Recyclingprozesse erklärt, verrät unwillentlich, wie seine Bosse damals argumentierten: "Die Verschmutzung kam auch von den Haushalten und vom Verkehr", sagt er. Bürgermeister Kenji Kitahashi sieht das anders: "Nach jahrelangen Debatten hat die Industrie eingesehen, dass auch sie selber so nicht überleben kann." Er lobt die Frauen für "ihren Mut und ihr Handeln".

Von Mitte der Siebziger an zogen in Kitakyūshū tatsächlich alle am gleichen Strang. Die Stadt wurde zum Modell einer Umweltsanierung. Sie führte die strengsten Umweltvorschriften Japans ein und machte der Privatwirtschaft in 174 Verträgen scharfe Auflagen. Der Giftschlamm wurde aus der Dōkai-Bucht gehoben, im Umweltmuseum sind Proben des zähen rostbraunen Schleims zu sehen. Bis Ende der Achtzigerjahre konnte die Staubbelastung um 90 Prozent verringert werden. In den Neunzigern kehrten mehr als hundert Fisch- und Muschelarten in die Bucht zurück. 1992 zeichnete die UNO-Konferenz für Umwelt, später auch die Weltbank und die OECD, Kitakyūshū für sein "grünes Wachstum" aus.

90 Prozent

... weniger Staubbelastung hat die Stadt Kitakyūshū, seit sie mehr als 170 Umweltverträge mit der Privatwirtschaft schloss. Das begann in den 1970er-Jahren. Die Stadt setzte so die strengsten Umweltvorschriften Japans durch. In der Dōkai-Bucht wurde der Giftschlamm gehoben, in den Folgejahren kehrten mehr als hundert Fisch- und Muschelarten dorthin zurück.

Geholfen hat Kitakyūshū allerdings auch, dass 1972 die letzten Kohlegruben geschlossen wurden; nicht für die Umwelt, sondern weil Importkohle billiger ist. Die Industrie baute viele Arbeitsplätze ab, sie beschäftigt nur noch 20 Prozent aller Arbeitnehmer. Mit 3000 Stellen ist das Stahlwerk dennoch der größte Arbeitgeber.

Als Bio-Idylle darf man sich die grüne Vorzeigestadt mit ihren 900 000 Einwohnern dennoch nicht vorstellen. Autobahnen auf Stelzen durchschneiden die zur Stadt vereinten Gemeinden zwischen der Küste und steilen Waldhängen. Ihre Bauten sind gesichtslos grau. Noch immer steigen Dampf und Rauch aus Schloten. Doch die Stadt treibt den Umweltschutz voran. Sie hat früh mit Mülltrennung begonnen und baut eine Eco-Town, wo sie bereits PET-Flaschen recycelt und künftig Verpackungsmaterialien und Autoteile zu Rohstoffen verarbeiten wird. "Wahrscheinlich bin ich der einzige Bürgermeister, der mit dem Sammeln von Müll berühmt geworden ist und daraus eine Industrie gemacht hat", sagte Kitahashis Vorgänger Kōichi Sueyoshi.

Die Stadt testet die Energieversorgung von Wohnhäusern mit Wasserstoff, der kleine Brennstoffzellen zur Stromproduktion antreibt. Dazu hat sie eine Wasserstoffleitung durch ein Viertel gelegt. Auf ihren Straßen verkehrt eine kleine Flotte Brennstoffzellen-Autos, die an der Zapfsäule Wasserstoff tanken, hier ein Nebenprodukt der Stahlproduktion.

Davon überzeugt, dass Strom künftig lokal produziert wird, baut die Stadt vor der Küste eine Windfarm, aber auch zwei Gaswerke und ein Kohlekraftwerk. Der Umweltschutz ist zum Exportprodukt geworden: Kitakyūshū bietet verdreckten Industriestädten, Dalian in China zum Beispiel, Know-how und Unterstützung an.

In Kitakyūshū waren es die Mütter, die den Kampf gegen die Umweltzerstörung anführten. Jetzt fordert die Mehrheit der Japanerinnen den Ausstieg aus der Kernenergie. Dabei ist ausgerechnet Kyūshū derzeit die einzige Region Japans mit Atomstrom. Sollten die Männer da nicht von der Erfahrung ihrer Frauen lernen?

Bürgermeister Kitahashi betont, Kitakyūshū hänge nicht am Netz von "Kyūshū Electric". Seine Stadt beziehe den Strom vom Stahlwerk. Die grüne Vorzeigestadt ist atomstromfrei. Dennoch scheut der Bürgermeister eine klare Stellungnahme gegen die Atompolitik der Regierung. "Das ist ein schwieriges Dilemma. Aber als Bürgermeister fühle ich mit der Gesellschaft, vor allem mit den Müttern."

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