Die neue Normalität der Pandemie ist für viele Japaner gar nicht so neu. Schutzmasken haben sie vorher schon getragen. Händeschütteln und Umarmungen mochten sie noch nie. Und das Daheimbleiben ist im Inselstaat eine nicht unbeliebte Freizeitbeschäftigung. Aber es gibt auch Verluste: Japans alte Stempelkultur steht auf dem Prüfstand. Es könnte sein, dass sie am Coronavirus zugrunde geht.
Der Hanko, der Namensstempel, ist fast seit Menschengedenken ein unverzichtbarer Gegenstand im Alltag der Japaner. Er ist das Zeichen ihrer Identität und Anwesenheit. Denn sein kleiner roter Abdruck gilt im Land der aufgehenden Sonne wie eine Unterschrift. Er ist schnell zur Hand und damit sehr praktisch für eine Gesellschaft, in deren Verwaltung Papier weiterhin ein wichtiges Medium ist.
Während der Coronavirus-Krise hat sich allerdings mehr denn je gezeigt, dass der Hanko auch ziemlich unpraktisch sein kann. Dass er sogar den Abstandsregeln der Virus-Vorbeugung widerspricht. Selbst in der Hochphase des Notstandes mussten Bürger und Unternehmer raus aus den eigenen vier Wänden, weil sie Papieren persönlich ihren Hanko aufdrücken mussten. Die Hightechnation fühlte sich ertappt: Komfort auf Knopfdruck und Roboter-Dienstleistungen sind hier verbreitet - aber statt bei Amtsgeschäften digitale Lösungen anzubieten, lässt Nippon stempeln wie im Mittelalter.
"Wir müssen das System und seinen Betrieb schnell und nutzerfreundlich überdenken", hat Premierminister Shinzō Abe deshalb Ende April gesagt und Richtlinien versprochen, nach denen genau das passieren soll. Das Thema ist nicht wirklich neu. Erst vergangenes Jahr gab es ein neues Gesetz, das die Online-Administration fördert. Aber in der Pandemie hat die Debatte noch einmal an Fahrt gewonnen.
Nicht jeder findet die digitale Wende notwendig. Die Hanko-Industrie ist aus naheliegenden Gründen dagegen. In den vergangenen 40 Jahren ist deren Geschäft auf ein Fünftel seiner früheren Größe geschrumpft, weil der private Sektor leichtfüßiger mit der Zeit geht als Japans rechtskonservative Regierung. Jetzt fürchten Hanko-Händler und -Hersteller, dass ihr Produkt endgültig seine Bedeutung verliert.
Immerhin haben sie einen prominenten Verbündeten: Naokazu Takemoto, 79 und IT-Minister im Abe-Kabinett, führt im Verband der Hanko-Industrie die Gruppe von Politikern, die sich dem Schutz der Stempelkultur verschrieben hat. In seiner Funktion müsste Takemoto eigentlich ein Motor der Digitalisierung sein. Aber solche Widersprüche sitzen etablierte Konservative in Japan problemlos aus. Takemoto hat sogar zugegeben, dass er "nicht supergut im Umgang mit dem Internet" sei. Zu Online-Administration und Papier-Bürokratie sagt er: "Man sollte sie nicht als sich widersprechende Dinge sehen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir beides blühen lassen."
Keine leichte Aufgabe, Vergangenheit und Gegenwart in ein Konzept zu packen. Aber vielleicht schaffen es die Japaner tatsächlich. Vor ein paar Monaten kursierte mal eine spannende Idee: Stempelnde Roboter im Dienste des Bürgers. Mit denen könnten die Hanko-Verkäufer sich sicherlich anfreunden.