Der Tote lag im Schlafanzug im Hof des Außenministeriums, das er leitete. Das Badezimmerfenster seiner Dienstwohnung im dritten Stock stand offen. Und damit begannen die Fragen: War der Mann gesprungen? Gestoßen worden? Oder in panischer Flucht gestürzt?
Die Kommunisten, die gerade die Macht in der Tschechoslowakei übernommen hatten, einigten sich schnell auf eine Erklärung. Wenige Stunden nachdem der Außenminister aufgefunden worden war und noch bevor eine Obduktion stattgefunden hatte, verkündeten sie: Jan Masaryk habe sich in dieser Nacht vom 9. auf den 10. März 1948 das Leben genommen.
Doch das zweifelten schon damals viele an. Nun, 72 Jahre später, wird dieser sogenannte dritte Prager Fenstersturz erneut rekonstruiert, meldet der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Anlass zu neuen Ermittlungen geben mehr als 50 Jahre alte Tonbandaufnahmen eines Zeugen, der 1948 als einer der Ersten am Tatort gewesen war. Sie liefern Hinweise darauf, dass damals möglicherweise einiges absichtlich vertuscht worden ist.
Die Familie hat nie an einen Selbstmord geglaubt
Es handelt sich um Erinnerungen eines Schutzpolizisten, der 1968 zu dem Fall befragt wurde. Während des Prager Frühlings wurde die Akte Jan Masaryk wieder geöffnet. Und ergebnislos nach der Niederschlagung der Reformbewegung wieder geschlossen. Doch der Schutzpolizist sprach seine Eindrücke zu Hause auf Band, seine Familie bewahrte es jahrzehntelang auf. Bilder vom Tatort, die man ihm 1968 vorlegte, passten nicht zu seiner Erinnerung. Sie mussten entstanden sein, nachdem der Arzt die Leiche untersucht hatte. Zudem fehlt darauf auch ein Taschentuch, mit dem der junge Polizist auf Anweisung des Arztes herumliegende Knochensplitter eingesammelt hatte.
Auf jene Tatortfotos aber hatten sich neuere Untersuchungen des Falls aus den Neunzigern und von 2003 gestützt. Die Ermittler hatten anhand der Lage des Körpers feststellen wollen, wie Masaryk aus dem Fenster gestürzt war. Mit dem Rücken zuerst? Hatte es dafür viel Kraft gebraucht? 2003 waren die Kriminalisten zu dem Schluss gekommen: Es war Mord. Doch damit waren die Fragen nicht beantwortet, längst nicht. Denn wer war der Täter? Und ist diese These nun vielleicht wieder hinfällig?
Jan Masaryks Familie hat nie an einen Selbstmord geglaubt. Es gab keinen Abschiedsbrief, aus Sicht der Angehörigen stimmten auch die Umstände nicht. "Wenn er sich hätte umbringen wollen, dann hätte er Tabletten genommen und er hätte sich wahrscheinlich etwas Elegantes angezogen, damit das Stil hat", erzählte die Großnichte Charlotta Kotíková kürzlich dem tschechischen Rundfunk. Zudem habe nicht nur im Badezimmer, sondern in der gesamten Wohnung große Unordnung geherrscht - untypisch für ihren Großonkel.
Auch unter den Kommunisten blieb er in der Regierung
"Unser Hans" wurde Jan Masaryk zu Kriegszeiten vom Volk liebevoll genannt. Aus der Exilregierung in London sprach er über Radio BBC den Tschechen in der von den Nazis besetzten Heimat Mut zu. Während der kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948 blieb er in der Regierung - was ihm besonders im Ausland übel genommen wurde. Zufrieden war er mit der politischen Situation jedoch nicht, er soll über eine erneute Emigration nachgedacht haben.
War Masaryk also das erste prominente Opfer der tschechischen Kommunisten? Auch der sowjetische und sogar der britische Geheimdienst wurden als Täter vermutet. Doch Masaryk litt auch lebenslang an psychischen Problemen, wurde als junger Mann wegen einer Form von Schizophrenie behandelt. Ein Kinofilm zeigte ihn 2016 als kosmopolitischen Lebemann. Bedrückt vom schweren Erbe seines Übervaters Tomáš Garrigue Masaryk- Gründer der Republik 1918 -, gequält von inneren Dämonen, zerrissen zwischen Vaterlandsliebe und Exil. Im Film wie im Leben entschied sich Jan Masaryk für sein Land. Sein rätselhafter Tod trägt dazu bei, dass er nicht vergessen wird.