Jamaika-Verhandlungen:Vertrauen? Nein. Aber so etwas wie Vertrautheit

  • Die Sondierungen laufen seit etwas mehr als vier Wochen, heute sollen sie ein Ende finden.
  • Es waren oft anstrengende, lange Verhandlungen. In dieser Zeit ist etwas gewachsen: nicht unbedingt Vertrauen, aber Vertrautheit.
  • Ob ein Ergebnis zustande kommt, ist noch immer unklar. Wenn, dann werden sich gerade CSU-Anhänger damit schwertun - denn es ist ein harter Kompromiss.

Von Mike Szymanski, Berlin

Die Grünen-Politikerin Claudia Roth kommt mit drei Taschen zum Finale. Aus der größten schaut die Ecke einer Wolldecke heraus. Sie hat nach eigenen Angaben ferner dabei: Zeug zum Abschminken und "Neu-Schminke" für den nächsten Tag. Es ist der 16. November 2017. Einmal noch schlafen und dann gibt es vielleicht bald eine Koalition namens Jamaika. Oder nicht. Claudia Roth ist jetzt 62 Jahre alt, sie gehört zu den Überzeugungstäterinnen in der Politik. Diese Jamaika-Werdung, wenn sie denn komme, sei etwas Einzigartiges, sagt sie. Mit ihrem ganzen Gepäck fühle sie sich wie eine Schwangere, die sich zur Entbindung ins Krankenhaus begebe. Dann verschwindet sie im Haus der Parlamentarischen Gesellschaft.

Donnerstag, Tag der Entscheidung bei den Sondierungen des schwarz-gelb-grünen Regierungsbündnisses in Berlin. Am frühen Nachmittag wird ein 61 Seiten langer Entwurf für eine Sondierungsvereinbarung bekannt. In ihm sind allerdings noch fast alle relevanten Punkte als strittig deklariert. Bis in den Freitag hinein wollten CDU, CSU, FDP und Grüne zusammensitzen, um die offenen Konflikte beizulegen. Ob das gelingen wird, ist am späten Donnerstagabend noch unklar. Abgekämpft sehen die Hauptdarsteller schon aus, als sie sich vor Beginn der Gespräche vor der Holztür der Parlamentarischen Gesellschaft einfinden wie auf einer Bühne - und ausnahmslos ans Verantwortungsgefühl appellieren. Man werde jetzt "Gespräche im Geiste von Problemlösungen" führen, kündigt FDP-Chef Christian Lindner an. Die Grünen erscheinen mit der ganzen Sondierungsgruppe. "Wir werden daran arbeiten mit allen Kräften, die wir haben, mit allen Überzeugungen, die wir haben, und mit dem Wissen, dass es um sehr viel geht für unser Land", sagt Katrin Göring-Eckardt.

Es klingt feierlich wie ein Gelöbnis. In den Wochen zuvor hatten die Dinge oft anderen Charakter, in allen Parteien. Da wurde mal geätzt und mal verzweifelt, und je näher das Ende rückte, desto lauter hatten die Unterhändler politische Differenzen betont. Jenseits des Taktierens aber und abseits der öffentlichen Wahrnehmung ist da wohl noch etwas anderes gewachsen: nicht unbedingt Vertrauen, aber Vertrautheit der Verhandlungsführer.

Wenn es nur in der Sache besser gelaufen wäre, bei den Streitthemen Flüchtlinge, Klima, Energie, Verkehr. Wenn. Dann würde Claudia Roth es sich an diesem nebelgrauen Finalmorgen vielleicht schenken, CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt noch einmal einen mitzugeben. Dobrindt hatte in den vergangenen Wochen den Scharfmacher gegeben. Es verging kaum ein Tag, an dem er die Grünen nicht spüren ließ, dass er sie für eine realitätsfremde, ideologisch verbohrte Partei hält. Claudia Roth ist mit dieser CSU in Bayern aufgewachsen, es sei "eine bayerische Regionalpartei", die auch zu Kompromissen bereit sein müsse.

Dobrindts Ton und Auftreten hat aber auch in der CDU nicht jedem gefallen. Womöglich gab es zuletzt sogar eine kleine Regieanweisung für ihn aus der CSU. Als er am Donnerstag mit seinen Parteifreunden am Verhandlungsort erscheint jedenfalls, schweigt er, ganz anders als sonst. Die CSU-Landesgruppe, das sind eben nicht nur Menschen wie der dröhnende Dobrindt oder Parteichef Horst Seehofer. Da ist auch Entwicklungsminister Gerd Müller. Wenn man ihn nach Jamaika fragt, sagt er, seine Anhänger wollten eine klare Unionsregierung. "Es werden die Allerwenigsten mit dem, was wir vereinbaren, zufrieden sein. Es ist ein Kompromiss von Vieren, kein Zweierkompromiss und keine Alleinregierung." Seine Anhänger sind es gewohnt, nur in der letzten Kategorie zu denken.

Als die Bundeskanzlerin am Donnerstag vor der Parlamentarischen Gesellschaft aus einem schweren Wagen steigt, sieht sie blass aus. "Vor vier Wochen und einem Tag" sei es losgegangen, sagt sie. "Gravierende Unterschiede" der Parteien seien in dieser Zeit zutage getreten, "jeder und jede" habe dafür gekämpft, die Interessen seiner Partei zu vertreten. "Ich finde es gut", sagt Merkel. "Aber heute ist der Tag, an dem wir uns auch in die Situation jeweils des anderen hineinversetzen müssen." Sollte Jamaika gelingen, schiebt sie noch hinterher, "kann daraus etwas Wichtiges für unser Land entstehen in einer Zeit großer Polarisierung."

Das klingt nicht nur wie ein Statement. Es ist eine kleine Ansprache und eine Warnung. Was dann für sie beginnt, ist ein langer Tag mit einem offenen Ende.

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