Jamaika-Sondierungen:Plötzlich "alles Konsens" im Tollhaus

Nach dem Krach um Flüchtlinge und Klimaschutz bemühen sich die Unterhändler der Union, der FDP und der Grünen um Kompromisse in den Themen Sicherheit, Arbeit, Rente und Bildung. Einigen Fragen gehen sie aus dem Weg.

Von Kristiana Ludwig und Hannah Beitzer, Berlin

Einige alte Feindbilder waren schon zu bewundern in einer Woche Jamaika-Sondierungen. Den einen wird eine "Prenzlauer-Berg-Mentalität", den anderen "Klamauk" vorgeworfen, sogar das Wort "Tollhaus" fällt. Es geht um die Themen Flüchtlingspolitik, Zuwanderung und Klimaschutz - und damit um Themen, die alle beteiligten Parteien so tief in ihrer Identität berühren, dass eine Einigung schwer vorstellbar ist.

Ob sie nur bessere Manieren vereinbart haben oder schon einen ersten Kompromiss bei den großen Streitthemen: Was die Parteichefs der Liberalen, Grünen und der Union am späten Sonntagabend bei Wein besprachen, war in jedem Fall ein Stimmungsaufheller. Als die Unterhändler am Montag die Gespräche über eine Jamaika-Regierung fortsetzten, sprachen alle Fraktionen von einer neuen, guten Arbeitsatmosphäre.

"Alles Konsens", verflogener Pulverdampf

Schon am frühen Morgen postete FDP-Parteichef Christian Lindner ein wackeliges Handyvideo aus seinem Dienstwagen, in dem er von einem "Mut-Montag" sprach. "Der Pulverdampf vom letzten Donnerstag ist verflogen", sagte Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner am Abend in die Fernsehkameras. Reiner Haseloff, CDU-Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, gab sich vor der Parlamentarischen Gesellschaft entspannt: Soli und Steuersenkungen, Familie und Gesellschaft: "Was wir dort vereinbaren wollen, das ist alles Konsens."

Ganz so ist es natürlich nicht. CDU, CSU, FDP und Grüne sind in den meisten der angesprochenen Themen unterschiedlicher Meinung - wenn nicht unbedingt in den Zielen, dann doch in der Umsetzung. Aber die am Montag besprochenen Themen gehen auch nicht so tief in die Partei-DNA wie die Themen Zuwanderung und Klimaschutz.

Für die Bereiche Bildung, Digitales, Arbeit, Gesundheit und innere Sicherheit präsentierten die Verhandler am Abend sanft formulierte Einigungspapiere. Zehn Prozent des Bruttosozialprodukts wolle man künftig in Schulbildung, Weiterbildung, Hochschulen und Forschung stecken - zum Beispiel sollen mehr Studenten die Möglichkeit erhalten, Bafög zu beantragen.

Mehr Geld für Bildung: Das ist eine Formel, auf die sich die deutsche Politik meistens einigen kann. Sie gilt allen Parteien von ganz links bis rechts als Motor für gesellschaftlichen Aufstieg und soziale Gerechtigkeit. Deutschland gibt im internationalen Vergleich viel für Bildung aus, das zeigte zuletzt zum Beispiel die OECD-Studie "Bildung auf einen Blick". Ob die Ausgaben die erwünschten Erfolge erzielen, steht auf einem anderen Blatt.

Wie geht es weiter mit dem Bildungsföderalismus?

Seit dem "Pisa-Schock" im Jahr 2000 hat sich in Deutschland einiges getan, sich die Leistungen der Schüler verbessert. Auch dank des parteiübergreifenden Konsens, dass in Bildung investiert werden muss. Nach wie vor ein Problem ist die Chancengleichheit. Der Bildungserfolg von Kindern und jungen Erwachsenen hänge zu sehr von der Herkunft ab, kritisieren Experten. Viel Kritik gibt es auch am föderalen System - in Deutschland gibt es nicht eines, sondern 16 Bildungssysteme von den 16 Bundesländern.

Das ist vor allem für die CSU ein heikles Thema. Bayerische Schüler schneiden in Vergleichsstudien stets gut ab, weswegen die Bayern auf jeden Fall am föderalen System festhalten wollen. Kein Wunder also, dass es im Sondierungspapier heißt: "Über die Art und Weise der Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen" in der Bildung müsse "noch gesprochen werden".

Viele offene Fragen auf der Rückseite der Sondierungspapiere

Im Bereich Digitales wollen die vier Fraktionen ein neues Datenrecht schaffen, Start-ups fördern und Funklöcher schließen. "Jamaika könnte das Bündnis der digitalen Chancen sein", sagte der Grüne Kellner. Das klingt beinahe euphorisch, stößt allerdings bei Experten auf Skepsis. "Bisher enttäuschend", twitterte etwa Markus Beckedahl, Gründer des renommierten Blogs Netzpolitik.org. Die Einigungen beschränkten sich zu sehr auf die digitale Wirtschaft.

In der inneren Sicherheit verständigten sich die Verhandler darauf, dass die Sicherheitsbehörden im Land besser zusammenarbeiten und mehr Mitarbeiter bekommen sollen - auch das war bereits im Wahlkampf eine Konsensforderung von links bis rechts. Bei der Abwehr von Terrorismus und Cyber-Angriffen konnten sich alle einigen, ebenso bei der Videoüberwachung "an Kriminalitätsschwerpunkten". Ein Punkt, der bei den Grünen und der FDP für Ärger an der Parteibasis sorgen könnte, denn die steht Überwachung kritisch gegenüber.

Dass beileibe nicht "alles Konsens" ist in dieser Sondierungsrunde, findet sich auf die Rückseite des Sicherheitspapiers. Dort haben die Jamaika-Sondierer 15 offene Fragen aufgelistet, die sich wie ein Sammelsurium aller Wahlkampfversprechen der Beteiligten lesen. "Die Frage des Verbots von Gesichtsverhüllung im gerichtlichen Verfahren" ist dabei, aber auch "die Frage des Rechts auf Verschlüsselung" von Daten.

Die Rente ist wichtig - und weiter?

Ähnlich klingen die Verabredungen der Unterhändler zu dem großen Themenkomplex Arbeit, Rente und Gesundheit: Es sind Fragen über Fragen. Die Beiträge zu den Sozialversicherungen sollen nicht zu sehr steigen, da sind sie sich alle einig. Doch wie dieses Ziel erreicht werden soll, sehen die Parteien unterschiedlich. Auch dass die Arbeitsbedingungen in den Pflegeheimen verbessert werden müssen, können alle unterschreiben. Fraglich ist, ob es ein Sofortprogramm geben soll oder Steuergeld für bessere Löhne.

Auch für eine auskömmliche Rente "gibt es verschiedene Vorstellungen und Modelle", schreiben die Unterhändler. Das sieht dann so aus: Die CSU fordert eine Ausweitung der Mütterrente, die Grünen sind dagegen und fordern stattdessen eine Garantierente für Menschen, die lange gearbeitet haben. Das CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn fordert ein Ende der Rente mit 63, wird sogar von Parteifreunden zurückgepfiffen. Die FDP will gerne ein flexibleres Renteneintrittsalter. Immerhin seien sich die Sondierer "einig, dass die Rentenpolitik von großer Wichtigkeit ist", heißt es im Papier. Das würde auch außerhalb der Sondierungen niemand abstreiten.

In der Gesundheitspolitik konnten sich Grüne, Liberale und Union darauf verständigen, dass sie die Organisation der Kliniken und Arztpraxen, die Digitalisierung im Gesundheitssystem und die Situation der Geburtshilfe verbessern wollen. Die Abschaffung der doppelten Strukturen aus privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen, mit der die Grünen in den Wahlkampf gezogen waren, taucht im Papier dagegen nur noch als eine Idee zur Finanzierung auf - als Fragestellung: "Modell einer Bürgerversicherung oder Weiterentwicklung des Dualen Systems".

Als letzter Punkt auf der Liste steht "die Frage der legalen kontrollierten Abgabe von Cannabis". CDU-Generalsekretär Peter Tauber formuliert so deutlich wie möglich, wie sein Lager das findet: Diese Frage stehe "ganz unten". So weit trägt die gute Stimmung dann doch nicht.

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