Jahrestag der Machtübernahme durch Muslimbrüder:Neuwahlen für Ägypten!

File photo of Republican Guard soldiers standing in front of a mural on the wall of the presidential palace in Cairo

Ein Wandgemälde am Präsidentenpalast in der ägyptischen Hauptstadt Kairo zeigt den ehemaligen Präsidenten Hosni Mubarak (rechts) und den amtierenden Staatschef Mohammed Mursi. 

(Foto: REUTERS)

Mohammed Mursi regiert das Chaos, seit nunmehr einem Jahr. Die Wirtschaft ist im freien Fall, die Grundnahrungsmittel sind teurer geworden, die Sicherheit der Bürger nicht mehr gewährleistet. Kurzum: Die sozialen Spannungen verschärfen sich. Ägypten findet nur Frieden, wenn der Präsident neu gewählt wird - zur Not unter dem Schutz der Armee.

Ein Gastbeitrag von Jürgen Chrobog

Am 30. Juni jährt sich in Ägypten die Machtübernahme durch die Muslimbrüder unter Präsident Mohammed Mursi. Seit seinem Regierungsantritt hat sich die Aufbruchstimmung des arabischen Frühlings in ihr Gegenteil verkehrt. Hass und Misstrauen prägen die Gesellschaft. Jede neue ägyptische Regierung muss sich daran messen lassen, ob es ihr gelingt, die wirtschaftliche Lage des Landes und damit die allgemeinen Lebensbedingungen zu verbessern.

Das Versagen dieser Regierung der Muslimbrüder ist offenkundig. Die Wirtschaft befindet sich im freien Fall. Der Tourismus erreicht nur noch die Strände des Roten Meeres. Die historischen Kulturstätten in Kairo und Oberägypten sind menschenleer. In Kairo sieht man kaum noch Polizei in der Öffentlichkeit. Der Verkehr wird immer chaotischer. Vor allem ist die Sicherheit der Bürger nicht mehr gewährleistet - mit gefährlichen Folgen insbesondere für junge Frauen, wenn sie sich ohne Kopftuch auf die Straße trauen. Täglich fallen Strom und Wasser aus, und die Preissteigerungen bei den Grundnahrungsmitteln machen das Leben für die Bevölkerung immer schwerer.

Die Unfähigkeit der Regierung Mursi hat das Land ins Chaos geführt. Inzwischen merken auch Landbevölkerung und die Angehörigen der ärmeren Schichten in den Städten, dass die Versprechen der Muslimbrüderr wertlos waren. Das könnte das Wahlverhalten bisheriger Mursi-Anhänger beeinflussen, auch wenn gerade wieder 100.000 für ihn demonstriert haben.

Schleichende Islamisierung der Gesellschaft

Die schleichende Islamisierung der Gesellschaft ist nicht mehr zu übersehen. Der kürzlich ernannte islamistische Kulturminister hat als Erstes das populäre Filmfestival abgesagt, den Operndirektor entlassen und Einschränkungen im Kulturbetrieb angeordnet. Das rege kulturelle Leben gerade in Kairo ist davon schwer betroffen. Aber es gibt zunehmend Widerstand. Künstler streiken und besetzen Opernhaus und Kultusministerium. Der Elan der Revolution hält nach wie vor an. Die Erfahrungen aus dem arabischen Frühling können nicht ausgelöscht werden.

Seit Wochen sammeln Tausende von Menschen überall im Land Unterschriften gegen die Regierung. Mehr als 15 Millionen sind es angeblich bereits und damit zwei Millionen Stimmen mehr als Mursi bei seiner Wahl im vergangenen Jahr bekommen hat. Mit diesem Zahlenspiel soll der Beweis erbracht werden, dass die Wahl gefälscht war und es nicht die behauptete Mehrheit für Mursi gibt. Rechtliche Konsequenzen hat diese Aktion nicht. Sie erhöht aber den politischen Druck der Straße.

Die groß angekündigte Rede von Mursi am Donnerstag hat die Lage weiter verschärft. Mursi hat zwar Fehler eingeräumt und wiederum einen Dialog angeboten. Er beschimpfte aber wie in der Vergangenheit die Demonstranten als Anhänger des alten Regimes, als Feinde der Demokratie und als Terroristen. Auf politische Forderungen der Opposition ging er nicht ein. Seine Ansprache ging ins Leere, erfolglos auch der Versuch, die Opposition zu spalten.

Die Spannungen nehmen zu. Für diesen Sonntag planen beide Seiten Massendemonstrationen. Schwere Auseinandersetzungen sind zu erwarten. Wieder kommt es darauf an, auf welcher Seite das Militär steht, und welche Rolle es bei möglichen Unruhen einnehmen wird. Die Muslimbrüder hatten sich mit dem Militär arrangiert. Alle wirtschaftlichen und machtpolitischen Privilegien wurden garantiert. Das Militär nahm sogar eine Rolle über der Verfassung ein. Die Generäle haben dem entsprechend wenig Neigung, in die Politik zurückzukehren. Sie wollen nicht noch einmal denselben Fehler machen wie in der Vergangenheit und das Land führen.

Die Ägypter wollen stabile Verhältnisse

Mursi und seine Muslimbrüder spekulieren darauf, dass die Armee nicht eingreifen wird, trotz ultimativer Forderung des Verteidigungsministers an beide Seiten, umgehend eine Einigung zu erzielen. Hier könnten sie sich aber täuschen. Alles hängt davon ab, ob es zu Blutvergießen kommt. Vor allem aber ist bedeutsam, wie viele Menschen auf die Straße gehen werden - die Armee wird sich auf die Seite der Mehrheit schlagen. Eine Machtübernahme des Militärs zumindest bis zu den kommenden Wahlen kann nicht ausgeschlossen werden.

Einen Ausweg können tatsächlich nur Neuwahlen bringen. Nicht nur muss das Parlament wie vorgesehen bestimmt werden. Vielmehr muss das Volk auch über den Präsidenten neu entscheiden. Die Armee könnte bis dahin einen neutralen Ministerpräsidenten einsetzen, der so notwendige Zeit erhält, Strukturen im Land aufzubauen, die eine Teilnahme an Wahlen ermöglichen.

Dies wäre in den Augen vieler Ägypter die beste Alternative. Sie sind die Unruhen und den Niedergang der Wirtschaft leid und wollen stabile Verhältnisse. Inzwischen gibt es schon wieder positive Erinnerungen an die Regierungszeit Mubaraks. Die Armee genießt immer noch relatives Vertrauen. Viele Menschen haben die Hoffnung, dass sie ihre Macht nicht wieder missbrauchen wird.

Sollten die Erwartungen der Muslimbrüder aufgehen und die Streitkräfte nicht einschreiten, wird es zu schweren Konfrontationen zwischen den verfeindeten Lagern kommen. Das Land wird vollends ins Chaos stürzen. Irgendwann wird das Militär in jedem Fall einschreiten müssen.

Wenige Einflussmöglichkeiten für den Westen

Problematisch ist immer noch die Tatsache, dass es keinen Kandidaten gibt, auf den sich die Opposition einigen kann. Sollte eine Konsensfigur bis zu den nächsten Wahlen nicht aufgebaut werden, würde dies die Hoffnungen auf einen grundlegenden Wandel in Ägypten zunichte machen.

Für den Westen gibt es nur wenige Einflussmöglichkeiten. Die USA haben Mursi und seiner Regierung in der Vergangenheit aus Eigeninteresse einen Vertrauensvorschuss eingeräumt, den er nicht verdient hatte. Der ägyptische Präsident verkörperte in ihren Augen ein Mindestmaß an Stabilität und Berechenbarkeit in einer immer stärker gefährdeten Region. Wieder wurde die Kraft der ägyptischen Revolution unterschätzt. Die Bundeskanzlerin hat Mursi bei seinem Besuch in Deutschland Grenzen aufgezeigt. Das war ein wichtiges Zeichen.

Deutschland sollte der ägyptischen Regierung klarmachen, dass sie keine Sympathie und keine wirtschaftliche Unterstützung erwarten kann, wenn sie rechtsstaatliche Grundsätze weiter missachtet und die Islamisierung des Landes mit den damit verbundenen Einschränkungen der Freiheit der Bürger fortsetzt. Die jungen Menschen im Land erwarten eine klare Haltung. Sie haben sie sich im arabischen Frühling verdient, als sie für Freiheit, Menschenrechte und bessere Lebensbedingungen gekämpft haben.

Jürgen Chrobog, 73, scheidender Vorstandsvorsitzender der BMW-Stiftung Herbert Quandt, war als Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter anderem für die Länder Afrikas zuständig und vermittelte häufig in der arabischen Welt.

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