100 Jahre Weimarer Republik:Die Europäer müssen den Ernst der Stunde erkennen

100 Jahre Weimarer Republik: Friedrich Ebert wird vom Präsidenten der Nationalversammlung Fehrenbach auf die neue Verfassung vereidigt. Es war eine bemerkenswert gute Verfassung für bemerkenswert schlechte Zeiten.

Friedrich Ebert wird vom Präsidenten der Nationalversammlung Fehrenbach auf die neue Verfassung vereidigt. Es war eine bemerkenswert gute Verfassung für bemerkenswert schlechte Zeiten.

(Foto: Scherl/SZ Photo)

Die Weimarer Republik war eine Republik mit zu wenigen Demokraten, die Verfassung von 1919 konnte Hitler nicht verhindern. Wenn bei der Europawahl die Nationalisten gewinnen, könnte es der EU ergehen wie Weimar.

Kommentar von Heribert Prantl

Wenn das Grundgesetz nicht 1949, sondern schon 1919 in Kraft getreten wäre - hätte es die Kraft gehabt, Hitler zu verhindern? Die Weimarer Verfassung von 1919 hatte diese Kraft nicht. Aber diese Verfassung war gleichwohl nicht so schlecht, wie sie geredet wurde und immer noch geredet wird. Diese erste demokratische Verfassung in Deutschland war eine bemerkenswert gute Verfassung; aber die Zeiten, in denen sie Geltung hatte, waren bemerkenswert schlecht. Die Weimarer Verfassung war modern, sie war aufklärerisch, sie war grundrechtsbetont, sie war emanzipatorisch, sie brachte das Frauenwahlrecht; sie war ihrer Zeit voraus.

Vor hundert Jahren trat die Nationalversammlung in Weimar zusammen und begann mit der Arbeit an dieser guten Verfassung. Auch für eine noch bessere Verfassung hätte der Satz des Staatsrechtlers Hugo Preuß gegolten; er war der erste Innenminister der Weimarer Republik und er hat ihre Verfassung wesentlich geprägt: Es tauge auch die beste Verfassung nichts, "wenn sie von ihren Vollstreckern falsch oder dilettantisch angewendet wird". Juristen sprechen gern von einem "Verfassungskörper". Wenn es einen solchen Verfassungskörper gibt, dann hat eine Verfassung auch einen Hals: Am Hals der Weimarer Verfassung hingen zentnerschwere Mühlsteine. Die erste deutsche Republik wurde traktiert von putschenden Militärs, von einer irrsinnigen Inflation und von blutigen Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsradikalen; der Versailler Vertrag schnürte ihr die Luft ab. Und es gab zu viele Parteien, deren Ziel der Sturz der Republik war. In den knapp 14 Jahren bis Hitler gab es 19 Regierungswechsel. Die parlamentarische Möglichkeit, den Kanzler zu stürzen, ohne gleichzeitig einen Nachfolger wählen zu müssen, wurde bis zum Exzess ausgenutzt. Das und die kaisergleiche Stellung des Reichspräsidenten und sein vermaledeites Notverordnungsrecht (nicht aber die Volksabstimmungen, von denen es nur zwei gab!) waren die genetischen Defekte der Weimarer Republik.

Es entstand ein antiparlamentarisches, autoritäres Präsidialregime, wie es die Verfassungsgeber von Weimar nicht gewollt hatten. Das Grundgesetz hat daraus gelernt; es hat das konstruktive Misstrauensvotum eingeführt. Ein Bundeskanzler kann nur gestürzt werden, wenn zugleich ein neuer gewählt wird. Das Werk der Mütter und Väter des Grundgesetzes von 1948/49 war also "Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung", wie das der Berliner Staatsrechtler Michael Kloepfer schön formuliert hat.

Zu den genetischen Defekten der EU gehört deren parlamentarische Schwäche

Vielleicht wird man später einmal von den genetischen Defekten des europäischen Verfassungskörpers so reden, wie man heute von den genetischen Defekten der Weimarer Verfassung spricht. Zu den genetischen Defekten der EU gehört deren parlamentarische Schwäche, gehört die Dominanz der EU-Kommission, gehört deren Bürgerferne. Das Parlament hat noch immer kein Initiativrecht zur Gesetzgebung. Das ist ein Elend, das zwar das derzeitige Elend Europas nicht erklärt, aber dazu beiträgt. Europa muss sozialer werden, es muss demokratischer werden; das EU-Wahlrecht muss europäisiert werden, es müssen europäische Parteien statt nationaler kandidieren. Es gibt große Fehler, es gibt großen Reformbedarf, jedoch ändert dies auch in der Summe nichts daran, dass Europa richtig ist. Der neue Nationalismus aber, der Europa bedroht, ist ein einziger riesiger Fehler.

Von der Weimarer Republik heißt es, sie sei eine Republik mit zu wenigen Demokraten gewesen. Es könnte Europa ergehen, wie es Weimar ergangen ist - wenn es zu wenige Europäer gibt, die die EU voranbringen wollen. Der Legende nach soll Joseph Haydn den berühmten Paukenschlag in den zweiten Satz seiner Sinfonie Nr. 94 hineinkomponiert haben, um das träge Publikum aus seinem konzertanten Tiefschlaf zu wecken. Vielleicht ist das Brexit-Drama auch so ein Paukenschlag. Wie viele Europäerinnen und Europäer - trotz aller berechtigten Kritik - zur Europäischen Union stehen, wird sich in wenigen Monaten bei der Wahl zum EU-Parlament zeigen. Wenn bei dieser Wahl die Nationalisten obsiegen, wenn sie das Parlament in den Griff nehmen - dann wird aus Brüssel womöglich das neue Weimar; dann besteht die Gefahr, dass Europa nicht fort-, sondern abgewickelt wird; dann könnte ein welthistorisches Friedensprojekt zusammenbrechen.

Das Grundgesetz, das im Mai, kurz vor der Europawahl, 70 Jahre alt wird, hat eine "Weimarer Probe" zum Glück nicht bestehen müssen. Es kann sein, dass Europa und die EU-Verfassungsordnung, gewürgt von Nationalisten und Extremisten, eine solche Probe bestehen müssen. Diese Probe besteht Europa nur dann, wenn die Europäerinnen und Europäer den Ernst der Stunde erkennen, wenn sie europäisch denken und handeln. Ein Europäer ist derjenige, der Sehnsucht nach Europa hat. Die Demokraten sollten sich, eingedenk Weimar, diese Sehnsucht leisten.

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