90 Jahre Versailler Vertrag:Im Angesicht des Grauens

Von der moralischen Hypothek des aufgezwungenen Versailler Friedensvertrages konnte sich die Weimarer Republik nie mehr befreien. Doch die Zerstörung verlangte nach Sühne.

Gerd Krumeich

Ein Schlussstrich sollte gezogen werden im Spiegelsaal des Versailler Schlosses - unter den großen Krieg Europas in der Welt, der schließlich sogar zum Weltkrieg geworden war. 90 Jahre ist das jetzt her: Am 28. Juni 1919 wurde der Versailler Friedensvertrag unterzeichnet. Als der Krieg im November 1918 zu Ende war, wusste man noch nicht, wie ungeheuer die ökonomischen und - wohl noch gravierender - die politischen und kollektiv-psychologischen Folgen dieses Krieges tatsächlich waren.

90 Jahre Versailler Vertrag: Nationalistische Deutsche 1929 bei einer Kundgebung gegen den Versailler Vertrag im Berliner Stadion mit der Fahne der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika.

Nationalistische Deutsche 1929 bei einer Kundgebung gegen den Versailler Vertrag im Berliner Stadion mit der Fahne der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika.

(Foto: Foto: Bundesarchiv, Bild 102-07996, CC-BY-SA)

Viele Ökonomen und Politiker glaubten, man könne zur guten alten Zeit zurückkehren, wenn...ja, wenn man die Verantwortlichen am Krieg zwingen würde, alle Kosten desselben zu begleichen. Abenteuerliche Schätzungen waren im Umlauf. In Frankreich sprach man von 1000 Milliarden Mark Reparationsleistungen. Von heute her gesehen ist das vielleicht gar nicht so viel, aber vor 1914 hatten sich Staatshaushalte im Bereich von jährlich acht Milliarden bewegt.

Niemand wusste auch nur annähernd, was etwa ein Wiederaufbau der zehn bis zur Unkenntlichkeit zerstörten französischen Departements des Kriegsgebietes an der Westfront kosten würde. Doch der Vorschlag der deutschen Regierung, als Verlierer zehn Milliarden Mark zu zahlen und damit einen Schlussstrich zu ziehen, löste in Frankreich schreiende Empörung aus. Dies umso mehr, als es ja nicht allein um die Abwicklung der materiellen Verluste des Krieges ging.

Was die Versailler Friedensregelung von 1919 so ungeheuer schwierig machte war die Tatsache, dass der Krieg von 1914 bis 1918 ein nie zuvor geahntes "Menschenmaterial" gebraucht hatte, wie man zynisch sagte. Mindestens elf Millionen tote Soldaten hat dieser Krieg nach vorsichtigen Schätzungen gekostet, und dieses Opfer der männlichen Jugend Europas und der USA verlangte gebieterisch nach Erklärung und Sühne.

Annexion als Verteidigung

Der weitere große Unterschied zu früheren Kriegen war die Tatsache, dass die länger als vier Jahre anhaltende, quasi totale Mobilisierung der wichtigsten Länder Europas nur möglich gewesen war durch eine ebenso totale "Mobilmachung der Geister": Extreme Feindpropaganda war ein starkes Element der Kriegsführung geworden, obwohl es eigentlich kein Krieg der Weltanschauungen war wie jener ab 1939. Alle Mächte warfen sich gegenseitig Verrat an den Prinzipien elementarer Menschlichkeit vor. Für die Franzosen war der Deutsche, der ihr Land verwüstete, schlicht ein "Hunne".

Die Deutschen hingegen waren der Überzeugung, dass sie in Frankreich und anderswo einen echten Verteidigungskrieg geführt hatten, der nur den "Ring der Einkreisung" durch feindselige, weil neidische Nachbarn brechen sollte. Unter "Verteidigung" ließen sich zwar auch massive Annexionen in Ost und West fassen, doch blieb die Überzeugung vorherrschend, dass Deutschland einen legitimen Verteidigungskrieg führte. Hierfür waren Ende 1918 nicht weniger als zwei Millionen Soldaten gefallen, und ca. 4,5 Millionen kehrten als Kriegsversehrte zurück. Dieses ungeheure Opfer sollte nunmehr ganz umsonst und zudem noch die Konsequenz eines "Verbrechens" der Deutschen gewesen sein?

Genau dies war der Vorwurf, den der französische Staatspräsident Poincaré am 18.1.1919 zur Begrüßung der Delegationen von 21 "alliierten und assoziierten" Sieger-Nationen, formulierte: "Was Ihnen die Autorität verleiht, einen Frieden der Gerechtigkeit zu schaffen, ist die Tatsache, dass keines der von Ihnen vertretenen Völker irgendeinen Anteil an diesem Verbrechen hat ... Die blutdurchtränkte Wahrheit ist bereits aus den kaiserlichen Archiven ans Licht gekommen. Der vorsätzliche Charakter des Anschlags ist schon jetzt erwiesen."

Sitzenbleiben als patriotischer Akt

Mit blutbefleckten Verbrechern setzt man sich nicht an einen Tisch, weshalb die Deutschen von den Friedensverhandlungen ausgeschlossen blieben. Erst im April 1919 durfte die deutsche Delegation einreisen und wurde in einem streng abgeschirmten Hotel untergebracht. Mit den Deutschen kommunizierten die Sieger nur auf schriftlichem Wege, und am 7. Mai erhielten sie die Friedensbedingungen präsentiert.

Clemenceau, von seinen Landsleuten gemeinhin "Tiger" genannt und inzwischen auch liebevoll als "Père-la-Victoire" tituliert, als Vater des Sieges, ließ es bei der Übergabe der Friedensbedingungen nicht an Deutlichkeit fehlen. Graf Brockdorff-Rantzau, Chef der deutschen Delegation, war von den Bedingungen so schockiert, dass er bei seiner Antwort sitzen blieb, weil ihm vor Erregung die Knie versagten. Später wurde dieses "Sitzenbleiben" als patriotischer Akt interpretiert.

Was die Deutschen damals am meisten erzürnte, waren nicht die territorialen Einbußen: dass man das 1871 annektierte Elsass-Lothringen wieder hergeben musste, verstand sich quasi von selbst, und in der Frage der neuen Ostgrenze zu Polen war das letzte Wort nicht gesprochen. Aber als unerfüllbar galt die Forderung, dass der Kaiser und hohe Militärs als Kriegsverbrecher ausgeliefert werden sollten und dass Deutschland Reparationen zahlen sollte, weil es die Welt mit seiner "Aggression" überzogen hatte.

"Deutschland hat durch den Krieg seine Leidenschaft für die Tyrannei befriedigen wollen."

Gegen diese geplante Friedensregelung rief die Reichsregierung am 12. Mai die deutsche Nationalversammlung zu einer Protestkundgebung in der Aula der Berliner Universität zusammen. Hier sprach Philipp Scheidemann, Reichskanzler und Chef der Sozialdemokratie, die von da an berühmten Worte, dass die Hand, die einen solchen Vertrag unterzeichne, verdorren müsse. Aber solche Bekundungen beeindruckten die Alliierten nicht im Geringsten. Der Vertrag basierte auf dem Vorwurf an Deutschland, einen verbrecherischen Krieg geplant und diesen wie Verbrecher geführt zu haben.

90 Jahre Versailler Vertrag: Spiegelsaal des Schloss Versailles: Hier wurde der folgenreiche Friedensvertrag unterzeichnet.

Spiegelsaal des Schloss Versailles: Hier wurde der folgenreiche Friedensvertrag unterzeichnet.

(Foto: Foto: dpa)

Bei der Übergabe der definitiven Friedensbedingungen an die deutsche Delegation, am 16. Juni, sprach Ministerpräsident Georges Clemenceau dies noch einmal mit äußerster Deutlichkeit aus: "Das Verhalten Deutschlands ist in der Geschichte der Menschheit fast beispiellos. Deutschland hat durch den Krieg seine Leidenschaft für die Tyrannei befriedigen wollen." Die Deutschen hatten es jetzt schwarz auf weiß: Die Reparationen sollten sie nicht leisten, weil sie den Krieg verloren hatten, wie es seit Jahrtausenden üblich war. Sie sollten alles allein bezahlen, weil sie ein Verbrechen an der Menschheit begangen hätten.

Spätere Historiker-Generationen haben argumentiert - um internationalen Ausgleich und Völkerverständigung löblich bemüht - , dass der Artikel 231 und der Kriegsschuldvorwurf relativ nebensächlich gewesen sei, dass er lediglich die Reparationsforderungen technisch abstützen sollte. Und der Historiker Heinrich August Winkler, Bannerträger solcher Verständigung, hat sogar geurteilt, dass die Deutschen, wären sie vernünftiger gewesen, hätten einsehen müssen, dass der Versailler Vertrag auch sehr gute Ansätze und Entwicklungsmöglichkeiten in sich getragen habe.

Die Deutschen waren damals aber nicht vernünftig, sondern wirr vor Zorn. Jedenfalls hätte sich in solchen Sätzen kein Zeitgenosse wiedererkannt. Die Regierung Scheidemann trat zurück, nicht willens, den "Schandfrieden" zu unterzeichnen. Ihre Nachfolgerin, das Kabinett Bauer, unterzeichnete dann doch, wenige Stunden vor Ablauf des Ultimatums der Alliierten. Denn deren Truppen standen bereit einzumarschieren und eventuell das Deutsche Reich in Einzelteile zu zerlegen, wie es die Absicht der Franzosen war.

Ätzendes Salz der Legende

So wurde der Friedensvertrag am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal von Versailles unterzeichnet, wobei die Inszenierung dieses Aktes grauslich und so traumatisch war, dass keiner der daran beteiligten Deutschen später davon hat sprechen wollen. Gegenüber der deutschen Delegation war eine Gruppe von fünf "gueules cassées" platziert worden, Soldaten mit schwersten Gesichtswunden, ohne Augen, Nase oder Mund. Sie standen da wie ein Menetekel des deutschen Menschheitsverbrechens. Es gibt keine Fotos dieser Szene, und die einzig vorhandene Filmaufnahme aus dem Spiegelsaal erfasst diese Gruppe nicht.

Die Deutschen waren indessen unfähig, aus der "Schmach von Versailles" einen gemeinsamen Abwehrwillen, eine Art Minimalkonsens, zu entwickeln. Zu eng verbanden sich die Niederlage von 1918 und das Friedensdiktat von 1919 mit dem Verdacht, dass die Niederlage nicht auf dem Schlachtfeld erfolgt sei, sondern das Resultat revolutionärer Aufstände und anderer Machenschaften der Linken. Hatte Hindenburg, der unumstrittene Kriegs- und Volksheld, dies nicht vor dem Untersuchungsausschuss der Nationalversammlung klar festgestellt?

Dabei hatte er nur die Schuld der Obersten Heeresleitung an der Niederlage bemänteln wollen. Die Dolchstoß-These war ätzendes Salz in der Wunde der Niederlage, und die Rechte machte aus dieser Behauptung das Zentrum der Angriffe gegen die Republik der Verlierer und Verräter am deutschen Volk. Aber der Schaden durch den Versailler Vertrag ging noch tiefer, er führte zu einem Basisverlust an Vertrauen in die Gestaltungskraft der neuen Staatsform.

Hitler hat seine Anklage des Weimarer "Systems" zentral auf den "jüdisch-bolschewistischen Verrat" und die Schmach von Versailles ausgerichtet. Im November 1928, zum zehnten Jahrestag der Niederlage, erklärte er etwas Erstaunliches: Die Republik hätte sogar bei den Nationalisten Anerkennung finden können, hätte sie sich verhalten wie die französische Republik 1870 unter Gambetta und eine bedingungslose Verteidigung der Grenzen organisiert. Doch was die Weimarer Republik getan habe, nämlich einen Vertrag zu unterzeichnen, der die Kriegsschuld Deutschlands behauptete, sei das unverzeihliche Verbrechen, für das die Verantwortlichen noch bestraft werden würden.

Die Nazis betrieben eine Revisionspolitik des Ersten Weltkriegs, was ihnen riesige Zustimmung in der deutschen Bevölkerung einbrachte. Nie war Hitler populärer - wie der britische Historiker Ian Kershaw gezeigt hat - als nach dem Sieg über Frankreich im Juni 1940, die Revanche für 1919. Das Versailles-Syndrom ging so weit, dass die deutschen Besetzer sofort anfingen, die Pariser Archive nach dem Originaldokument des Versailler Vertrages zu durchsuchen, den Göring unbedingt in Berlin ausstellen und den andere feierlich verbrennen wollten. Aber das gelang nicht, weil die französischen Archivare das Corpus Delicti raffiniert versteckten.

War Versailles 1919 schuld daran, dass die Deutschen sich 1933 Hitler anvertrauten? Generationen von Zeitgenossen und Historikern haben das zur Entschuldigung der Deutschen behauptet. Tatsächlich war dies ein apologetisches Totschlag-Argument. Deshalb wollten nachfolgende kritische Historiker nichts mehr davon wissen und legten tiefere Wurzeln des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte frei, beispielsweise die Verspätung der demokratischen Entwicklung durch den preußischen Militarismus. Das war eine sicherlich notwendige Reaktion, weshalb aber die Bedeutung des Friedensvertrags von 1919 historisch marginalisiert wurde.

Auch die Zeit hat natürlich geheilt. Für die Jüngeren ist der Versailler Vertrag heute so weit entfernt wie die napoleonische Zeit. Das ist gut so, denn nunmehr können wir sine ira et studio wieder beginnen zu erkennen, welch große Rolle er doch gespielt hat: Der Erste Weltkrieg war mit diesem Diktat der Sieger nicht wirklich beendet.

Gerd Krumeich, geboren 1945, ist Professor für Geschichte an der Universität Düsseldorf. Zu seinen Spezialgebieten gehört der Erste Weltkrieg.

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