Elena Kirsnouskaya, 1959 in Minsk geboren, absolvierte eine Ausbildung zur Krankenschwester. Im Mai 1986 wurde sie als Reservistin nach Tschernobyl geschickt.
1986 war ich 26 Jahre alt. Ich arbeitete als OP-Schwester in Minsk. In der Nacht vom 3. auf den 4. Mai wurde ich durch den Boten des Kriegskommissariats geweckt. Im Einberufungsbefehl stand geschrieben, dass ich am nächsten Morgen um 9 Uhr ins Kriegskommissariat kommen sollte. Als Wehrpflichtige durfte ich diesen Befehl nicht ignorieren.
Im Minsker Kriegskommissariat waren schon viele andere junge Frauen. Wir sollten als Reservistinnen an einer Militärübung teilnehmen. Wie lange diese Übung dauern sollte und wo sie überhaupt stattfand, wussten wir nicht. Wir wurden nicht informiert.
Mit Militärbussen fuhren wir in die Garnison Uretschje. Dort bekam ich Militärkleidung: eine Feldbluse mit Rock und Stiefel der Größe 41. Meine Schuhgröße war 34. Keine Strumpfhose, nur Fußlappen. Dann fuhren wir weiter nach Choiniki. Ich sehe die Stadt jetzt noch vor meinen Augen. Alle Straßen waren leer, wie ausgestorben, keine Menschen, keine Kinder. Läden, Post, alles war zu - wie im Krieg.
Ich konnte noch nicht einmal zu Hause anrufen, um meiner Familie und meinem Freund Bescheid zu sagen, wo ich mich befand. Nicht einmal dafür hatte ich Geld, denn unsere Wertsachen mitsamt unserer Zivilkleidung hatten wir in Uretschje gelassen. Erst nach Tagen durfte ich meine Familie benachrichtigen.
Unsere Aufgabe war es, die nicht evakuierten Bewohner aus Choiniki und den umliegenden Dörfern medizinisch zu versorgen. Jeden Morgen mussten wir zum Appell. Marschieren auf dem Platz, Staub wirbelte in die Luft. Unsere Feldküche befand sich ebenfalls im Freien. Meistens gab es nur Brei. An Fleisch, Fisch oder anderes Essen kann ich mich nicht erinnern.
Die Strahlenwerte unserer Messgeräte bewegten sich um die Norm. Damals wussten wir so gut wie nichts über die Folgen radioaktiver Strahlung. Ständig hat man uns eingeredet, dass alles in Ordnung sei. Wir hatten täglich Dienst, fuhren in die Dörfer der 30-Kilometer-Zone, haben die Radioaktivität gemessen und Kranke behandelt. Ich werde diese Menschen mit ihren unheilbaren Wunden niemals vergessen. Wir wussten nicht, woher diese Wunden kamen. Auch die Ärzte waren schlecht informiert. Heute verstehe ich, warum wir ihre Wunden nicht heilen konnten.
Nach zwei Wochen in Choiniki wurde ich krank, ich hatte eine Blasenentzündung mit Bluterguß. Nach langem Bitten durfte ich schließlich nach Minsk fahren, um mich behandeln zu lassen. Ich war lange krank, aber meine Krankheit wurde nicht mit dem Einsatz in Verbindung gebracht. Meine Kolleginnen, die länger als drei Monate gedient hatten, hatten große Veränderungen im Blutbild. Ich begreife nicht, warum so viele junge Frauen dorthin geschickt wurden. Durch die Strahlung wurde nicht nur ihre Gesundheit, sondern auch die Gesundheit ihrer Kinder stark beeinträchtigt.
Als ich später meinen Freund heiratete und schwanger wurde, verlor ich mein Kind nach zwölf Wochen mit starker Blutung. Erst Ende 1989 klappe es wieder mit einer Schwangerschaft und ich bekam Aljoscha. Er ist jetzt schon über 20 Jahre alt. Er hat Herzprobleme.
1996 bildeten sich große Knoten in meiner Schilddrüse, die mittlerweile mit Tschernobyl in Verbindung gebracht werden. Ich bin Liquidatorin der Tschernobylkatastrophe.