25 Jahre Super-GAU in Tschernobyl (3):Vergessene Retter

Nach der Explosion im AKW Tschernobyl schickte Moskau Hunderttausende Liquidatoren in die Todeszone - oft ohne die nötige Ausrüstung. Der Mut der Soldaten, Freiwilligen und Krankenschwestern ist heute fast vergessen. Sechs Helden erinnern sich.

Rüdiger Lubricht

7 Bilder

Liquidatoren

Quelle: Rüdiger Lubricht

1 / 7

Mykola Bosyi, 1942 im Gebiet Kiew geboren, leitete die militärische Spezialeinheit 731, die maßgeblich an der Löschung des Reaktors beteiligt war. Er ist Oberst außer Dienst.

Die Katastrophe von Tschernobyl offenbarte schlagartig das Unvermögen aller zivilen Schutzeinrichtungen. Alle Pläne und Schulungen erwiesen sich als unbrauchbar.

Am 26. April um 3 Uhr morgens wurde meine Einheit alarmiert. Um 6 Uhr rückten wir aus, gegen 10 Uhr waren wir in Pripjat angekommen und begannen mit unserer Arbeit. Mit unseren Strahlenmessfahrzeugen lieferten wir um 16 Uhr erste Daten an die Regierungskommission, auf deren Grundlage später die Evakuierung beschlossen wurde. Zu unseren wichtigsten Aufgaben gehörte es, den Unfallort zu lokalisieren und den Brand im Reaktor zu löschen.

Am 27. April begannen wir, mit Hubschraubern aus 200 Meter Höhe Sand, Blähton, Dolomit und Blei über dem brennenden Reaktor abzuwerfen. Das Material füllten meine Soldaten am Boden in Container, die dann vom Haken der Hubschrauber aus entleert wurden. Während dieser 15 bis 30 Sekunden waren die Hubschrauber einer Strahlung von 100.000 Sievert pro Sekunde ausgesetzt und ihre Anzeigen funktionierten nicht mehr. Auf ihren Unterböden brachten sie jedes Mal jede Menge radioaktiver Stoffe zurück. Die Soldaten am Boden weigerten sich bald, die verstrahlten Container neu zu füllen.

Wir gingen also dazu über, Lastenfallschirme als Säcke zu benutzen, die wir mit fünf bis acht Tonnen Gewicht unter die Hubschrauber einhängten und im Dreiminutentakt über dem Krater abwarfen. Für diese Arbeit wurde meine Einheit aufgestockt. Am 26. und 27. April hätte der zivile Katastrophenschutz seine eigentliche Arbeit aufnehmen müssen, aber er lieferte uns nur das Material. Als seine Mitarbeiter vom Ausmaß der Katastrophe erfuhren, packten die meisten von ihnen ihre Familien in die Autos und fuhren weit weg. So übernahm das Militär die Verantwortung.

Um meine Einheit zu unterstützen, hat die Kiewer Militärverwaltung in Absprache mit dem Innenministerium 353 gewöhnliche, gesetzestreue Bürger zu Soldaten gemacht, sie hastig in Uniformen gesteckt und in den Kampf mit der Radioaktivität geworfen. Diese Reservisten wurden zur Spezialeinheit 731.

Über die Gründung dieser Einheit gab es keinen schriftlichen Befehl, wie im Krieg lief alles mündlich ab. Ich übernahm die Führung der neuen Soldaten, als sie am 29. April bei uns ankamen. Über meine gesamte Einheit wurde das Kriegsrecht verhängt, sodass Flucht gleichbedeutend gewesen wäre mit Desertion. Innerhalb von nur 13 Stunden wurde so eine Mobilisierung durchgeführt, für die regulären Truppen 72 Stunden eingeräumt werden. Die Ausrüstung, die für den Kriegsfall als strategische Reserve in den Wehrverwaltungen vorhanden war, wurde uns allerdings verwehrt.

Die Soldaten beluden die Fallschirme mit bloßen Händen. Sie stapelten die 60 bis 80 kg schweren Sandsäcke in fünf Reihen und legten Bleibarren von 50 kg darauf. Ihr Arbeitstag dauerte 16 Stunden. Sie aßen direkt am Flughafen und schliefen im Zeltlager. Es gab keinen Staubschutz, keine Kleidungswechsel, keine Waschanlagen. Jeder Soldat strahlte wie ein kleiner Reaktor.

Liquidatoren

Quelle: Rüdiger Lubricht

2 / 7

Josef Belapko, geboren 1943 im Gebiet Witebsk, besuchte eine Militärhochschule und diente als Offizier in Afghanistan, in Tschernobyl und in Bergkarabach. Heute ist er Oberstleutnant a. D.

Die sowjetische Regierung verheimlichte damals die Wahrheit. Heute bekomme ich Herzschmerzen, wenn ich mich an die Zeit in der 30-Kilometer-Zone erinnere. Fast ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit die schreckliche Nachricht über die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl jene Menschen erreichte, die alles verloren, was sie sich in ihrem Leben mühsam erarbeitet hatten. Das Schrecklichste dabei ist, dass sie nicht nur ihr Hab und Gut verloren, sondern auch ihre Gesundheit - und die Gesundheit kommender Generationen.

Am 1. Mai fanden überall Demonstrationen statt, die Kinder spielten draußen. Die Menschen wurden aufgefordert, an den Paraden teilzunehmen. Ich erinnere mich an die drückende Hitze. Im Hals fing es an zu kratzen und viele bekamen schrecklichen Durst. Unser Regiment wurde alarmiert und traf in aller Eile die letzten Vorbereitungen zur Abfahrt in die 10-km-Zone um Tschernobyl. Der Grund war allen bekannt. "Ich weiß, du bist die Zeit in Afghanistan noch nicht los, aber das ist ein sehr wichtiger und mit vielen Schwierigkeiten verbundener Auftrag. Seine Erfüllung braucht viel Erfahrung", sagte mir ein Offizier. Da blieb mir nichts anderes übrig, als zu sagen: "Jawohl, zu Befehl!"

In der 30-Kilometer-Zone im Gebiet Gomel haben wir Zäune aufgestellt, Dienst auf Wachtürmen geleistet, bei der Evakuierung der Menschen geholfen. Wir sahen schreckliche Bilder: menschenleere Dörfer, hungrige Wildtiere und in der Nacht - erdrückende Stille, kein Licht viele Kilometer weit. Aber das Schrecklichste war die unsichtbare Radioaktivität. Die Strahlenschutzmaßnahmen für eine nukleare Explosion, die wir eingeübt hatten, erwiesen sich allesamt als sehr praxisfern. Wer und wie viel Strahlung abbekommen hat, weiß bis jetzt niemand. Man hat die Strahlendosis so aufgeschrieben, wie es verlangt wurde.

Die Vorgesetzten aus Moskau, die einen Tag bei uns blieben, bekamen 15 Röntgenstunden aufgeschrieben, und wir, die wir vier Monate dort waren, nur drei Röntgenstunden. Wir wussten nicht, wie wir uns am besten schützen konnten. Sollten wir stehen oder liegen? Diese Schlamperei wird sich noch Jahre später negativ auf unsere Gesundheit auswirken, wenn wir an Krebs- oder Herzkrankheiten sterben.

Liquidatoren

Quelle: Rüdiger Lubricht

3 / 7

Anna Emyalyanchyk, 1967 in Minsk geboren, war vor 1986 als Verkäuferin im Warenhaus GUM tätig. Im August 1986 wurde sie für mehrere Monate nach Tschernobyl geschickt.

1986 war ich 19 Jahre alt. Ich hatte keine Ahnung, was Radioaktivität ist und welche Folgen sie hat. Ich arbeitete als Verkäuferin in einem der größten Kaufhäuser unserer Republik, dem GUM. Im August 1986 bekam ich den Komsomolzenauftrag, nach Tschernobyl zu fahren. Ablehnen konnte ich nicht - das hätte Verrat an der Jugendorganisation bedeutet.

Der Zug brachte mich und viele andere Komsomolzinnen nach Gomel. Dort wurden wir auf verschiedene Orte verteilt. Ich wurde mit ein paar Kolleginnen in ein teils evakuiertes Dorf geschickt. Wir mussten den Dorfladen reinigen. Später brachte man uns in die Kreisstadt Choiniki. Wir machten in einem Laden, der nach der Katastrophe einige Monate geschlossen war, die Buchprüfung und räumten auf. Unsere Vergütung reichte zum Leben nicht aus. Es war August, überall reiften Äpfel und Birnen, die wir pflückten und mit Vergnügen aßen.

Drei Monate später musste ich zum zweiten Mal in die Zone. Dies galt als Auszeichnung für meine dort gut geleistete Arbeit. Ich mietete ein Zimmer in einem Bauernhaus. Die Hauswirtin heizte den Ofen mit Torfbriketts und ohne es zu wissen atmete ich radioaktiven Staub ein.

Als ich nach zwei Monaten nach Hause kam, ging es mir gesundheitlich miserabel. Oft wurde ich hinter der Verkaufstheke ohnmächtig, bekam Nasenbluten. Meine Arbeitskollegen hatten wenig Verständnis und erklärten mir: Wir haben dich schließlich nicht dorthin geschickt.

Mein Freund verließ mich trotz meiner Krankheit nicht. Er machte mir Mut und bat mich, ihn zu heiraten. Bald wurde ich schwanger. Fast die ganze Schwangerschaft über war ich im Krankenhaus und musste das Bett hüten. Nach neun Monaten kam unsere erste Tochter zur Welt, man brachte sie sofort auf die Intensivstation. Als Kind war sie sehr kränklich und durfte nicht in den Kindergarten.

Im Rahmen eines Mutter-Kind-Programms waren wir dreimal in Norddeutschland zur Genesung. Ich habe eine Menge chronischer Krankheiten, wie Aorteninsuffizienz, vegetativzirkulatorische Dystonie, ein chronisches Magengeschwür, Eisenmangel, Dyskinesie der ableitenden Gallenwege, eine Zyste in der Gebärmutter.

Vor elf Jahren kam meine zweite Tochter zur Welt. Mit acht Jahren bekam sie ihre Periode, vorzeitige Geschlechtsreife. Sie war anderthalb Jahre in Behandlung. Jetzt ist alles in Ordnung. Mit großer Mühe ist es mir gelungen, den Ausweis als Liquidatorin zu bekommen. Ich brauche diese offizielle Anerkennung, um meinen Kindern die notwendige medizinische Behandlung zu sichern.

Liquidatoren

Quelle: Rüdiger Lubricht

4 / 7

Elena Kirsnouskaya, 1959 in Minsk geboren, absolvierte eine Ausbildung zur Krankenschwester. Im Mai 1986 wurde sie als Reservistin nach Tschernobyl geschickt.

1986 war ich 26 Jahre alt. Ich arbeitete als OP-Schwester in Minsk. In der Nacht vom 3. auf den 4. Mai wurde ich durch den Boten des Kriegskommissariats geweckt. Im Einberufungsbefehl stand geschrieben, dass ich am nächsten Morgen um 9 Uhr ins Kriegskommissariat kommen sollte. Als Wehrpflichtige durfte ich diesen Befehl nicht ignorieren.

Im Minsker Kriegskommissariat waren schon viele andere junge Frauen. Wir sollten als Reservistinnen an einer Militärübung teilnehmen. Wie lange diese Übung dauern sollte und wo sie überhaupt stattfand, wussten wir nicht. Wir wurden nicht informiert.

Mit Militärbussen fuhren wir in die Garnison Uretschje. Dort bekam ich Militärkleidung: eine Feldbluse mit Rock und Stiefel der Größe 41. Meine Schuhgröße war 34. Keine Strumpfhose, nur Fußlappen. Dann fuhren wir weiter nach Choiniki. Ich sehe die Stadt jetzt noch vor meinen Augen. Alle Straßen waren leer, wie ausgestorben, keine Menschen, keine Kinder. Läden, Post, alles war zu - wie im Krieg.

Ich konnte noch nicht einmal zu Hause anrufen, um meiner Familie und meinem Freund Bescheid zu sagen, wo ich mich befand. Nicht einmal dafür hatte ich Geld, denn unsere Wertsachen mitsamt unserer Zivilkleidung hatten wir in Uretschje gelassen. Erst nach Tagen durfte ich meine Familie benachrichtigen.

Unsere Aufgabe war es, die nicht evakuierten Bewohner aus Choiniki und den umliegenden Dörfern medizinisch zu versorgen. Jeden Morgen mussten wir zum Appell. Marschieren auf dem Platz, Staub wirbelte in die Luft. Unsere Feldküche befand sich ebenfalls im Freien. Meistens gab es nur Brei. An Fleisch, Fisch oder anderes Essen kann ich mich nicht erinnern.

Die Strahlenwerte unserer Messgeräte bewegten sich um die Norm. Damals wussten wir so gut wie nichts über die Folgen radioaktiver Strahlung. Ständig hat man uns eingeredet, dass alles in Ordnung sei. Wir hatten täglich Dienst, fuhren in die Dörfer der 30-Kilometer-Zone, haben die Radioaktivität gemessen und Kranke behandelt. Ich werde diese Menschen mit ihren unheilbaren Wunden niemals vergessen. Wir wussten nicht, woher diese Wunden kamen. Auch die Ärzte waren schlecht informiert. Heute verstehe ich, warum wir ihre Wunden nicht heilen konnten.

Nach zwei Wochen in Choiniki wurde ich krank, ich hatte eine Blasenentzündung mit Bluterguß. Nach langem Bitten durfte ich schließlich nach Minsk fahren, um mich behandeln zu lassen. Ich war lange krank, aber meine Krankheit wurde nicht mit dem Einsatz in Verbindung gebracht. Meine Kolleginnen, die länger als drei Monate gedient hatten, hatten große Veränderungen im Blutbild. Ich begreife nicht, warum so viele junge Frauen dorthin geschickt wurden. Durch die Strahlung wurde nicht nur ihre Gesundheit, sondern auch die Gesundheit ihrer Kinder stark beeinträchtigt.

Als ich später meinen Freund heiratete und schwanger wurde, verlor ich mein Kind nach zwölf Wochen mit starker Blutung. Erst Ende 1989 klappe es wieder mit einer Schwangerschaft und ich bekam Aljoscha. Er ist jetzt schon über 20 Jahre alt. Er hat Herzprobleme.

1996 bildeten sich große Knoten in meiner Schilddrüse, die mittlerweile mit Tschernobyl in Verbindung gebracht werden. Ich bin Liquidatorin der Tschernobylkatastrophe.

Liquidatoren

Quelle: Rüdiger Lubricht

5 / 7

Uladzimir Siadniou, 1957 im Gebiet Minsk geboren, arbeitete als Ingenieur im Wärmekraftwerk Swetlogorsk und leistete seinen Militärdienst als Panzerzugführer ab. Zwischen September und November 1986 war er als Schichtleiter der Halle für die Wärmeversorgung und die unterirdischen Rohrleitungen im AKW Tschernobyl tätig.

Der 26. April 1986 war ein Sonnabend, ein freier Tag. Wir fuhren mit unseren Kindern in unseren Garten, um ihn umzugraben. Von der Katastrophe wussten wir noch nichts. Davon erfuhren wir erst Anfang Mai aus dem Fernsehen. Zu dieser Zeit arbeitete ich als Schichtleiter auf der Baustelle eines AKW, das in der Nähe von Minsk gebaut werden sollte. Unser Betrieb gehörte zum Energieministerium der UdSSR.

Im September 1986 wurden ich und noch ein Schichtleiter zum Oberingenieur gerufen, der uns ein Telegramm des Ministeriums in Moskau zeigte. Sofort sollten zwei Schichtleiter nach Tschernobyl abkommandiert werden. Wir hatten drei Tage Zeit, um uns darauf vorzubereiten. Meine Frau brach in Tränen aus, als ich ihr alles erzählte. Aber es war nichts zu machen, wir mussten fahren. In Tschernobyl waren die Blöcke abgeschaltet, nur die Wassersperren und Reservekessel waren in Betrieb. Das Sicherheitspersonal arbeitete schichtweise.

Über dem vierten, zerstörten Reaktor errichteten Monteure eine sehr große Metallkonstruktion, die dann mit Beton ausgefüllt wurde. Auf dem Gelände stand viel Bautechnik, Kräne und Betonfahrzeuge waren unterwegs. Wir wurden in Bussen bis zur Verwaltung gebracht (zuerst in einem "sauberen" Bus bis Ljolew, danach in einem verstrahlten).

Uns bot sich ein ungewöhnliches Bild: Alle waren in Spezialkleidung oder in Uniform gekleidet, auf dem Kopf eine weiße Hülle, alle mit Gesichtsmasken. Jeder trug sichtbar zwei Ausweise: der rosarote war für die verseuchte Zone, der blaue für den Reaktor. Auf dem Verwaltungsgebäude hing in großen Buchstaben die Losung: "Das AKW Tschernobyl arbeitet für den Kommunismus."

Liquidatoren

Quelle: Rüdiger Lubricht

6 / 7

Nikalay Kantsavenka, 1941 im Gebiet Gomel geboren, war viele Jahre als Forstmeister im Ort Bobrowski tätig. 1986 und 1987 musste er in der stark radioaktiv verseuchten Gegend um Tschernobyl Bäume pflanzen. Seit 1987 leidet er an Krebs.

Am 28. April 1986 haben wir Kartoffeln gesetzt. Plötzlich kam eine riesige dunkelbraune Regenwolke, die uns erschreckte. Wir versteckten uns in der Scheune. Von dem Störfall in Tschernobyl erfuhren wir erst Tage später.

Ich war leidenschaftlicher Fischer und angelte oft an unserem See. Nach dem Vorfall im Reaktor kam ich zum See und erkannte ihn nicht wieder: Das Seewasser war grün. Meine Frau hat unsere Kuh gemolken, die Milch war grün und zog Fäden.

Ein Radiologe kam zu uns und brachte drei Strahlenmessgeräte mit. Als Förster musste ich damit die Strahlenwerte in meinem Waldrevier messen und notieren. Der Radiologe erklärte, dass die Kontaminierung migriert, das heißt, sie verteilt sich fleckenweise. Das Gerät piepste einmal hier und einmal da. An einem Tag mehr an einem anderen Tag weniger.

Ich musste die höchste Stelle in der Gegend messen, an der sich der Leuchtturm befand. Im Wald betrug die Verseuchung 40 Curie, auf dem Leuchtturm piepste das Messgerät immer. Hubschrauber kamen zu uns und es wurden Bodenproben von jedem Waldstück genommen. Unser Ort war sehr stark verstrahlt. An dem einen Ortsrand betrug die Kontaminierung 15 Curie, an dem anderen 80 Curie. Niemand verstand, warum. Einige Dörfer in der Umgebung wurden dem Erdboden gleichgemacht. Dort mussten wir dann Bäume pflanzen. Jetzt wachsen dort schöne Wälder. Zur Beerdigung meines Sohnes fuhr ich daran vorbei.

Nach der Arbeit im Wald hatte ich Atemnotanfälle und ständiges Nasenbluten. Ich musste ins Krankenhaus nach Gomel und dann in die Onkologische Klinik Borowljany bei Minsk. Mein Arzt sagte mir offen, dass ich mit keiner hohen Lebenserwartung rechnen könne.

Unser Ort wurde erst 1990 ausgesiedelt, ebenso alle Nachbardörfer. Einige Kilometer von unserem Ort entfernt beginnt schon das Brjansker Gebiet, das zu Russland gehört. Auch die russischen Dörfer auf der linken Uferseite vom Sosch wurden ausgesiedelt und die Häuser abgerissen.

In Minsk bekamen wir keine Wohnung zugeteilt, obwohl es uns versprochen worden war. Ich habe eine Wohnung gekauft und lebe dort mit meiner Frau. Meine beiden Söhne blieben in Gomel und lebten im Arbeiterwohnheim. Der eine erkrankte an Krebs und starb mit 28 Jahren. Seine Frau hatte auch große gesundheitliche Probleme. Sie blieb allein mit zwei kleinen Mädchen. Meine Enkelin wurde als Tschernobylkind nach Deutschland zur Kur geschickt. Dann luden die Deutschen im Rahmen des Mutter-Kind-Programms auch meine Schwiegertochter ein. Der Gastvater verliebte sich in meine Schwiegertochter und sie haben geheiratet. Sie leben jetzt in Hannover und sind sehr glücklich.

Tschernobyl-Fotograf Rüdiger Lubricht

Quelle: dpa

7 / 7

Alle Porträts dieser Bildstrecke hat der 1946 geborene Fotograf Rüdiger Lubricht gemacht. Sie sind ebenso wie die Augenzeugenberichte der Liquidatoren im Bildband "Verlorene Orte. Gebrochene Biographien" enthalten, den das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk Dortmund herausgeben hat. Er ist für 25 Euro im Buchhandel erhältlich. Zudem tourt eine Wanderausstellung durch deutsche Städte.

Die Fotografien aus der Sperrzone von Tschernobyl sowie die Porträts der Liquidatoren sind bis zum 29. Mai im Berliner Willy-Brandt-Haus zu sehen.

© sueddeutsche.de
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: