25 Jahre nach dem Ende der UdSSR:Phantomschmerz

Weißrussland zwischen Nostalgie und Moderne. Die EU ist nah, aber unerreichbar, die Jugend verlässt das Dorf, das Wohlergehen ihrer Eltern hängt am Gemüsegarten.

Von Frank Nienhuysen, Chadyloni

Der Weizen in Wassilischki leuchtet, sanft beugt der Wind das Halmenmeer. Störche segeln über Zuckerrübenfelder, sie werden am Horizont eingerahmt von üppigem Wald. Bald ist die Zeit reif für die Ernte, bald wird der Staat gefüttert. Getreide, Milch, Fleisch; der Staat bestimmt, was er braucht, die Betriebe müssen liefern, den Plan erfüllen. Und Wassilischki liefert. So ist das in Weißrussland, so ist das in Europas letzter Planwirtschaft.

Wassilischki hat 2500 Einwohner und 150 Traktoren, alle aus weißrussischer Produktion. Sie könnten mit ihren Traktorennasen innerhalb von Minuten an die EU-Grenze stupsen. Von Wassilischki im Nordwesten des Landes ist Europa ganz nah, bis Litauen sind es 15 Kilometer. Aber man spürt die EU kaum. Man spürt vielmehr einen Rest von Sowjetunion, der sich auch 25 Jahre nach dem Ende des Imperiums in Europa hält, man spürt den Atem von Minsk, das 250 Kilometer entfernt liegt. "Minsk, der Präsident und die Regierung sind für die Menschen wie Gott", sagt Wladimir Serechan.

Serechan ist selbst nicht ganz unwichtig. Der Direktor der "Offenen Aktiengesellschaft Wassilischki", ein untersetzter Mann im weißen Hemd, ist Herr über einen großen Landwirtschaftsbetrieb, der neben dem Heer weißrussischer Traktoren auch Mähdrescher und Erntemaschinen aus Deutschland hat. Die Offene Aktiengesellschaft dominiert das Leben in Wassilischki und den Dörfern drumherum. Sie ist der größte Arbeitgeber weit und breit und muss sich nicht mit der Konkurrenz aus Europa herumschlagen. Im eigenen Land hat sie wohl auch keine, mehrmals hat sie schon den "Regionswettbewerb der Arbeitskollektive im landwirtschaftlichen Sektor" gewonnen. So heißt das hier.

Der Cognac leuchtet am Mittag noch goldener als die Weizenfelder

Serechan legt sehr viel Wert darauf, dass keiner seinen Großbetrieb eine Kolchose nennt. Weißrussland will nicht rückständig wirken, und Kolchose klingt nun wirklich sehr nach Sowjetunion. Dabei gibt es vermutlich kein Land in Europa, in dem noch so viel sowjetischer Geist übrig geblieben ist wie in Weißrussland. Der Geheimdienst etwa heißt immer noch KGB. Aber Kolchosen? Serechan sagt, "Kolchosen gibt es bei uns schon seit 20 Jahren nicht mehr." Die Menschen in den Dörfern sprechen praktisch nur von der Kolchose.

Serechan bittet in das Kulturhaus von Wassilischki, es steht auf dem herausgeputzten Hauptplatz der Siedlung. Im Gebäude direkt nebenan ist die Leitung der Aktiengesellschaft Wassilischki untergebracht, praktischerweise auch der Stadtrat und die Bank. Man stimmt sich eben eng ab. Staat ist hier irgendwie alles.

Der Direktor ist nicht allein gekommen. Ein Ideologie-Beauftragter ist dabei, für welche Ideologie, das sagt er nicht. Und ein Mitarbeiter für wirtschaftliche Entwicklung. Es ist Samstagmittag, Wochenende, aber für eine Führung durchs Kulturhaus nehmen sich die Herren gern Zeit. Und so geht's im Trupp durch das Gebäude, die blonde Direktorin präsentiert jedes Zimmer einzeln. Sie zeigt einen Lesesaal, in dem Bücher mit Hammer und Sichel drapiert sind, einen Zeitungsartikel über einen Schönheitswettbewerb und ein Buch mit einem großen Titelfoto von Präsident Alexander Lukaschenko, es heißt "Modernes Weißrussland". Die Direktorin sucht nicht selber aus, was an Büchern in den Lesesaal kommt. Das machen die Behörden für sie.

"Das hier ist unser großer Stolz", erzählt die Direktorin; sie zeigt auf einen etwa fünf Meter hohen schlanken Leuchter, der im Treppenhaus des Kulturhauses von Wassilischki hängt. Stolz ist sie auch auf die vielen Kinderbücher, auf die 670 Leser, die im System registriert sind, ja auf jeden Computer, den sie herzeigen kann. Einmal macht sie nur kurz die Tür eines Raums auf und sagt, "schauen Sie, schöne Möbel hier". Dann schließt sie die Tür wieder.

Man wundert sich die ganze Zeit, warum man ein Gespräch mit dem Direktor eines wichtigen Agrarbetriebs ausgemacht hat und nun in aller Ausführlichkeit das Kulturhaus gezeigt bekommt, samt Tanzsaal für Aufführungen und einem Zimmer, in dem Kinder Klavierspielen lernen können. Aber so ist das wohl: Staat, Betrieb, Kultur, in Weißrussland greift eins ins andere. Schon geht es zum Gespräch in den nächsten Raum, dort ist ein Tisch üppig gedeckt. Heiße Kohlsuppe dampft, Häppchen mit Lachskaviar warten, Rohkostgemüse, Teller mit weißrussischer Salami und aufgeschnittenem Obst. Kartoffelpüree mit Fleisch wird serviert und Cognac aus Moldawien. Es wird höflich gefragt, dann zielstrebig eingeschenkt. Es ist erst Mittag, der moldawische Cognac leuchtet noch goldener als die Weizenfelder von Wassilischki. Es ist der Rahmen, um über die großen Dinge zu sprechen.

Die Banja ist die Kür, der Gemüsegarten die Pflicht, die das Überleben sichert

Weißrussland galt in den Augen des Westens lange als die letzte Diktatur in Europa. Das hat sich etwas geändert. Weißrussland ist wieder hoffähig geworden. Es hat als Gast- und Namensgeber des Minsker Abkommens im Ukraine-Konflikt vermittelt, die EU und die USA haben ihre Sanktionen aufgehoben. Lukaschenko, der autoritäre Dauerpräsident, sucht jetzt etwas mehr Distanz zu Russland und etwas mehr Annäherung an den Westen. An Washington und an den Nachbarn, an die EU. Was das alles mit Wassilischki und seiner Umgebung zu tun hat? Einiges.

Russland ist der größte Markt für weißrussische Produkte, also für alles, was auf den Feldern von Wassilischki wächst und gedeiht, gemästet und in den Milchbetrieben und der Schweinefarm produziert und gezüchtet wird. Aber die Geschäfte laufen nicht mehr so exzellent, wie es die staatlichen Pläne einmal vorgesehen hatten. Seitdem Russland die Einfuhr von Lebensmitteln aus der EU verboten hat und seine eigene Landwirtschaft fördert, bekommt das auch Weißrussland zu spüren. Die Exporte sinken, die Preise steigen.

"Seit einem Jahr gibt es sogar weißrussische Betriebe, die russisches Schweinefleisch einkaufen", sagt Serechan. Bisher war es immer umkehrt. Serechan macht das Sorgen. Auch wenn Russland der wichtigste Partner bleibt, so würde er sich schon freuen, wenn die EU, die ja zum Greifen nahe ist, ein zusätzlicher Absatzmarkt werden könnte. Aber er sagt, "die Europäische Union wartet nicht auf uns. Sie hat ihre eigenen Probleme."

So versuchen sie, sich irgendwie auf sich selber zu besinnen. Weißrussland hat ja seine eigenen Probleme. Wassilischki natürlich auch. Zum Beispiel, dass die Provinz stirbt. Es ist überall schwer, die Menschen auf dem Land zu halten. Erst recht in einem Staat, der so viel Wert auf seine Agrarwirtschaft legt, der keinen Zugang zum Meer hat, keine reichen Bodenschätze. Aber der Staat muss sich kümmern. Auch das ist ein Relikt aus kommunistischen Zeiten, das in Weißrussland gepflegt wird: Der Betrieb, der mehrheitlich dem Staat gehört, sorgt sich um seine Angestellten. Heißt für die Offene Aktiengesellschaft von Wassilischki: Sie führt einen landesweiten Plan des Präsidenten aus und baut hübsche, hellgelbe Häuschen für ihre Mitarbeiter, die sie später günstig abbezahlen können. Einheitsgröße: 75 Quadratmeter, drei Zimmer, zwei dünne weiße Säulen, die am Eingang das Vordach stützen, ein umzäunter kleiner Garten. Fast bezugsfertig stehen die Häuser im Zentrum von Wassilischki. Daneben gibt es einen neuen kleinen Sportplatz und Parkplätze. Direktor Serechan sagt, "alles, damit die Leute hierbleiben."

Die Schule ist längst zugewuchert, die Akten im Gras interessieren keinen Menschen mehr

Sigmund Ilkewitsch ist geblieben. Nicht direkt in Wassilischki, aber gleich nebenan, im Dorf Chadyloni. 200 Einwohner. Das weiße Steinhaus der Familie liegt an einem Weg, der vor so langer Zeit asphaltiert wurde, dass vom Belag fast nichts mehr übrig ist. Man sieht vor allem Erde und Staub. Für neuen Asphalt ist vermutlich kein Geld da, vielleicht interessiert es auch einfach niemanden, dass da etwas getan werden müsste. Früher arbeitete Ilkewitsch als Ingenieur in der Kolchose, zur Sowjetzeit hat ihm der Staat das Haus gebaut, das heißt, der Staat hat viele Häuser gebaut und ihm und seiner Frau Alfreda eines zugewiesen. Als die UdSSR zerbrach und Weißrussland die Unabhängigkeit zufiel, die Familie aber kaum Geld hatte, mussten die Ilkewitschs dem Staat das Häuschen für 5000 sowjetische Rubel abkaufen. Sie haben es erst noch renovieren müssen und dann im Garten eine Banja gebaut, eine Sauna, in der sie jetzt fließendes Wasser haben und sich waschen können. Und sie haben einen Garten. Ohne ihn würde es ihnen schlecht ergehen. Sigmund Ilkewitsch und seine Frau Alfreda, die Lehrerin ist, verdienen nur wenige Hundert Euro im Monat. Das hölzerne Banja-Häuschen ist so etwas wie die Kür auf dem Grundstück. Der Gemüsegarten ist die Pflicht.

Der weißrussische Staat versorgt seine Bevölkerung, aber die Menschen müssen schauen, dass sie klarkommen. Im Garten wachsen deshalb: Kartoffeln, Paprika, Lauch, Kürbis, Bohnen, Gurken, Erdbeeren, Kirschen, Salat, Zucchini, Kohl. Hühner laufen herum. Es ist eine kleine Privatkolchose. Früher hatte die Familie sogar eine Kuh, sie haben ihre Butter, ihren Käse und Quark selbst gemacht. Aber der Aufwand hat sich irgendwann nicht mehr gelohnt. So wohnen sie jetzt hier mit viel Garten und viel Wald drumherum, ohne Kuh und ohne Kinder.

Die Kinder sind weg, in der Stadt. Fast alle Kinder in Chadyloni sind weg. Alfreda Ilkewitsch fragt - eigentlich ist es mehr ein Satz mit Ausrufezeichen - , "Was sollen sie hier?" Es gibt nichts zu arbeiten im Dorf, auch in der Nähe kaum Arbeitsplätze. Es sei denn, in der Offenen Aktiengesellschaft Wassilischki. Aber da will nicht jeder sein Geld verdienen. Die beiden Ilkewitsch-Töchter jedenfalls wollen es nicht.

Die Frunse-Kolchose in Chadyloni, in der Sigmund Ilkewitsch früher arbeitete, ist geschlossen. Er ist jetzt in Wassilischki auf einer Schweinefarm beschäftigt. In Chadyloni gibt es praktisch nichts mehr. Ein kleiner Lebensmittelladen steht noch, in dem die Männer des Dorfes Wodka kaufen, Wodka geht immer. Es gibt auch Kaffee, Wasser, russische Aljonka-Schokolade und ein Bügeleisen aus China. Was es nicht gibt, kann man bestellen, es wird geliefert in ein paar Tagen. Aber das ist es dann auch. Das Dorf Chadyloni verwaist. Wie viele weißrussische Dörfer.

Europa ist Alfreda wichtig, aber Russland bleibt ihr näher: "Ich bin doch in der UdSSR aufgewachsen."

Bis vor zwei Jahren gab es eine Schule, die ist nun geschlossen. Das Beerdigungsgeschäft gibt es nicht mehr, es ist sozusagen selbst gestorben. "Jetzt bleiben zum Sterben eigentlich nur noch die Menschen", sagt Alfreda Ilkewitsch. Sie erlebt es ja, das Dorfsterben. Sie hat an der Schule von Chadyloni als Grundschullehrerin gearbeitet - bis es keine Kinder mehr gab. Sie lehrt jetzt im Nachbarort, aber manchmal sitzen auch dort nur drei oder vier Kinder in einer Klasse. Alle haben ein Smartphone und manche Löcher in den Stiefeln. In Weißrussland ist das kein Widerspruch, das Arme, Archaische und das Moderne existieren mühelos nebeneinander.

Alfreda sagt, "ich habe Angst, dass ich es bis zur Rente nicht schaffe, dass auch meine jetzige Schule bis dahin schließen muss." Sie ist als Lehrerin beim Staat angestellt. Trotzdem läuft ihr Vertrag jeweils nur für ein Jahr. Mit jeder Verlängerung verlängert sich die Sorge, dass es danach nicht mehr weitergeht.

Die beiden erwachsenen Töchter der Ilkewitschs kommen oft zu Besuch, aber sie können sich nicht vorstellen, jemals zurückzukehren nach Chadyloni. Alla ist 21 und studiert Medizin in Grodno. Natalja, 27, hat es nach dem Germanistikstudium an das Goethe-Institut in Minsk geschafft. Sie ist übers Wochenende da und schlendert nun über die Dorfstraße zur geschlossenen Grundschule, die zuwuchert, das Gras steht bereits kniehoch. Man kann hineinschauen durch die Fenster, in den gähnend leeren Geschichtsraum, in dem nur noch ein Nagel in der Wand steckt, in den Mathematikraum. Vor dem Eingang steht die Büste einer Dichterin aus der Region, die vermutlich bald vergessen sein wird.

Wahlen mit chancenloser Opposition

25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion kämpft das unabhängige Weißrussland mit einer schweren Wirtschaftskrise. Vor allem der Rubelverfall beim großen Nachbarn Russland hat das Land getroffen und Weißrussland in eine Rezession geführt. Auch deshalb sucht die autoritäre Führung von Präsident Alexander Lukaschenko nun wirtschafts- und außenpolitisch mehr Handlungsspielraum. Helfen soll dies auch bei einem neuen Kredit, den sich Minsk vom Internationalen Währungsfonds erhofft. Doch mit Reformen tut sich Weißrussland schwer.

Das Land, in dem knapp zehn Millionen Menschen leben, ist nach wie vor geprägt von der Dominanz des Staates, der die Ökonomie, aber auch die Gesellschaft weitgehend kontrolliert. Lukaschenko, bereits seit mehr als 20 Jahren in Minsk an der Macht, regiert weiter mit harter Hand. Die Opposition ist nach Jahren der Repression fast bedeutungslos, von echten demokratischen Reformen ist Weißrussland weit entfernt. Es ist das einzige Land in Europa, in dem die Todesstrafe noch immer vollstreckt wird. Doch die Vermittlerrolle im UkraineKonflikt und die Freilassung von politischen Gefangenen hat Folgen für das Verhältnis zum Westen. Seitdem die Europäische Union ihre Sanktionen gegen Weißrussland aufgehoben hat, sind die Kontakte in Politik und Diplomatie intensiver geworden, hat sich der Dialog über Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit - und damit das Verhältnis insgesamt - verbessert. Sogar mit besseren Beziehungen zu den USA kokettiert Minsk.

An diesem Sonntag finden in Weißrussland Parlamentswahlen statt, mehr Einfluss von Oppositionsparteien wird nicht erwartet. Noch bei der Präsidentschaftswahl im Herbst hatte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) fehlende OSZE-Standards beklagt, wenngleich sie wenigstens festhielt, dass die Abstimmung friedlich verlaufen ist. Beobachter glauben auch für die Parlamentswahl nicht an echte demokratische Fortschritte. Das weißrussische Helsinki-Komitee und die Menschenrechtsorganisation Viasna sprachen auch diesmal im Vorfeld von einem "Missbrauch administrativer Ressourcen". Zugleich stellten sie immerhin fest, dass diesmal weniger Kandidaten verweigert wurde, sich für die Wahlen zu registrieren.

frank nienhuysen

Draußen im Gras liegen Dokumente herum, Protokolle der Lehrersitzungen von 1995: Niemand da, den das jetzt noch interessieren würde. Natalja erkennt die Schrift, bis zur 9. Klasse ist sie in diese Schule gegangen. Sie sagt, "es ist ein bisschen traurig, aber so ist nun mal das Leben." Ob sie die Protokolle nicht besser der Gemeinde übergeben sollte? "Wozu? Die würden sie eh verbrennen."

Auf der Dorfstraße prescht ohne Helm ein Motorradfahrer vorbei, scheinbar ziellos. Welchen besonderen Ort sollte er auch aufsuchen? Als er den Fremden sieht und die junge Natalja Ilkewitsch mit den langen blonden Haaren, kehrt er noch einmal um, offenbar neugierig geworden. Dann rattert er erneut vorbei.

Auf dem Weg zurück zum Elternhaus erklärt Natalja das Lattengerüst, das unscheinbar am Wegesrand steht. Wer eine Kuh hat in Chadyloni, kann hier in der Früh abgefüllte Milch hinstellen. Sie wird abgeholt, es gibt ein paar Kopeken. Als Natalja noch in Chadyloni wohnte, hat sie sich mit Freunden zu einem Waldspaziergang verabredet oder sie haben sich an der Bushaltestelle getroffen. Einen Ort, ein Café, einen Platz, der als Treffpunkt dienen könnte, gibt es nicht.

Unglücklich ist das Leben deswegen noch lange nicht, auch wenn dieses Weißrussland ein autoritäres Land ist, die Gehälter mickrig sind und Europa nah und doch so fern bleibt. Viermal pro Woche hält in der Nähe ein Bus, der von der Stadt Grodno in die litauische Hauptstadt Vilnius fährt, also in die EU. Alfreda Ilkewitsch war früher oft dort. Früher, das war in der Sowjetunion, als es diese Grenze nicht gab. Für die Lehrerin ist das merkwürdig: Die große Grenze nach Westen ist gefallen, und doch steht nun eine neue Grenze direkt vor ihrem Häuschen. Für Litauen braucht sie nun ein Visum, das macht 60 Euro. "Das kann ich mir nicht leisten", sagt sie. "Ja, Europa ist gleich nebenan, aber es ist, als gäbe es einen Vorhang."

Also bleibt sie in Chadyloni, auch da kann man sich einrichten. Grund für gute Laune findet sie immer. Etwa den, dass die Töchter da sind. Schon am Mittag hat Alfreda Ilkewitsch kräftig aufgetischt, serviert warme Golubzy, Krautwickel mit Reis, Karotten und Kefir, Kuchen mit Beeren aus eigenem Anbau und blassen Birkensaft, den sie aus den Bäumen zapfen, kochen und mit Zucker versetzen. Genug Birken gibt es ja. Die Natur ist ein herrlicher Selbstbedienungsladen. Aus der Wohnzimmerwand ragt ein langes Kabel heraus, dort war der Fernseher aufgehängt. Er steht seit der Renovierung in der Garage. Alfreda Ilkewitsch sagt, "wir brauchen ihn nicht. Die Nachrichten sind immer alle so toll, die Realität sieht manchmal anders aus."

Die Politik? Nein, über Politik will sie nicht sprechen. Außer, dass sie natürlich will, dass das Verhältnis zwischen Weißrussland und Europa sich verbessert. "Das ist wichtig, und wir verdienen das", sagt sie. Russland ist ihr trotz allem näher, auch wegen der Sprache, "ich bin ja noch in der Sowjetunion aufgewachsen. Außerdem: Wirtschaftlich würde uns niemand helfen, außer Russland."

Es ist später Nachmittag, nebenan quiekt ein Schwein, und der Birkensaft zeigt Wirkung. Der Weg zur Toilette führt durch den Garten und am Zaun des Nachbarn entlang, hin zu einem Holzhäuschen mit einem runden Loch im Bretterboden. Da gibt es im Haus Internetanschluss, einen Flachbildschirm-Computer mit zwei Lautsprecherboxen, aber die Toilette ist ein Urzeitmodell. Auf dem Weg zurück ist das Schwein auf dem Nachbargrundstück verstummt. Mehrere Erwachsene machen sich gut gelaunt an einem Kadaver zu schaffen. Das Schwein des Nachbarn ist also geschlachtet, und zu diesem Anlass sind die erwachsenen Kinder des Nachbarn samt Familien aus Minsk und aus Grodno nach Chadyloni gekommen. Es wird gerecht geteilt, so ein Schwein wirft genug ab, den Rest frieren sie ein.

Sigmund Ilkewitsch hantiert auch gerade mit Fleisch, aber es ist portioniert, weil gekauft. Er füllt damit den Grillrost. Seine Frau Alfreda und ihre Töchter schaffen aus dem Haus eine Platte und eine Schüssel nach der anderen herbei. Aufgetischt wird in der Banja. Es wird gegessen und geschwitzt, gegessen und getrunken und geredet. Über Gott und die Welt, über die katholische Kirche im Nachbarort, in die alle Chalydonier sonntags selbstverständlich gehen, über renitente Schüler, Bildungsprobleme, die Jugend, die Rubelreform.

Alla, die Medizinstudentin, kommt fast jedes Wochenende aus Grodno. Zurück will sie nicht, aber nach Europa auswandern, Weißrussland verlassen, das will sie auch nicht. Ihre Eltern wollen jetzt nicht klagen, sie sind froh über den engen Kontakt zu ihren Kindern, und die Politik lassen sie Politik sein.

Natürlich würde Alfreda Ilkewitsch mit ihrem Mann gern mal verreisen, aber von welchem Geld? Sie haben gelernt, ihr Leben zu ertragen. "Wozu sich beklagen? Wenn es nur uns so ginge, dann wäre es schwierig", sagt sie. "Aber im Dorf geht es allen gleich. Mein Platz ist hier." Und ihr Mann Sigmund sagt das, was viele in diesem Land sagen, wenn man sie fragt, wie es so geht im Leben, wie die Bilanz aussieht: "Normalno", sagt er, "alles ganz normal." So wie immer.

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