20 Jahre Montagsdemonstration:Als die Diktatur zerbrach

Dass nicht der 9. Oktober Feiertag der Deutschen wurde, ist schade - er hätte es verdient. Damals siegten die Ohnmächtigen über die Mächtigen.

M. Drobinski

Vielleicht ist der Tag deshalb nicht so recht im kollektiven Bewusstsein verankert, weil es so wenig Bilder gibt, keine bunten, ausgelassen fröhlichen wie vom 9. November 1989. Der 9. Oktober 1989 lebt in statischen Schwarzweiß-Aufnahmen fort, die Menschen darauf wirken ernst und verlegen angesichts der Macht, die sie auf einmal haben.

Leipzig, dpa, DDR, Montagsdemonstration, 1989

"Wir wollen keine Gewalt! Wir wollen Veränderungen!" steht auf ihren Plakaten: DDR-Bürger auf der ersten Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989

(Foto: Foto: dpa)

Am 9. Oktober 1989, heute vor 20 Jahren, zogen 70.000 Demonstranten von der Nikolaikirche und anderen Kirchen der Stadt über den Leipziger Ring. Volkspolizei und Nationale Volksarmee der DDR hatten den Befehl, den Zug aufzulösen, notfalls mit Gewalt. Doch dann geschah das Wunder. Die Polizei zog sich zurück, die Panzer blieben in den Kasernen, die Gewaltigen der DDR hatten mit einem Aufstand gerechnet, nicht mit Menschen, die Kerzen trugen und "keine Gewalt!" riefen.

Für viele ehemalige Bürgerrechtler, für oppositionelle Christen und solche, die in den Kirchen Unterschlupf fanden, ist deshalb der 9. Oktober der Tag, an dem die Macht der Diktatur zerbrach, nicht der 9. November. Sie sagen auch nicht gerne "Wende", sie sagen "friedliche Revolution" - Wende ist für sie das Wort der SED-Funktionäre, die den Eindruck erwecken wollten, sie hätten selber das Steuer herumgerissen. Und eigentlich haben sie recht.

Der 9. Oktober 1989 gehört zu den wenigen Momenten der Weltgeschichte, an denen die Ohnmächtigen stärker waren als die Mächtigen. An jenem Montag im Oktober überwanden sie die Realitäten, sie ließen das Große nicht groß bleiben und das Kleine nicht klein; an diesem Abend besiegte in Leipzig, Dresden, Berlin und anderswo der Mut und die Zivilcourage die Untertanenangst. Der 9. Oktober könnte deshalb ein sehr deutscher Feiertag sein.

Er ist es nicht geworden, und das liegt nicht nur an den Schwarzweiß-Bildern. Der 9. Oktober ist der Tag der DDR-Oppositionellen, der Tag jener, die in der DDR ohne Heimat waren und die in der Bundesrepublik geehrte und doch fremde Gäste blieben. Es ist der Tag der Leute aus den Friedensgruppen, Umweltbibliotheken, Literaturzirkeln. Sie stießen sich nicht daran, dass es der DDR an Bananen, Levis-Jeans und ordentlichen Autos mangelte. Ihnen fehlte die Freiheit zum Andersdenken und die Luft zum Atmen, sie wollten ihre Kinder nicht zum Hass auf den Klassenfeind erziehen. Sie waren in der DDR die Minderheit der Empfindlichen und Empfindsamen. Sie waren, was heute gerne übersehen wird, auch in den Kirchen marginal: Nur wenige Gemeinden öffneten der Opposition die Tür, und in Leipzig durfte Pfarrer Wonneberger die Montagsgebete nicht mehr leiten, die er initiiert hatte.

Fünf Wochen nur währte die Zeit dieser Opposition mit ihrer Unbedingtheit, dem Moralüberschuss und den Utopien vom Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Dann fiel die Mauer, der Westen war da. Menschen mit Moralüberschuss werden im Westen als "Gutmenschen" belächelt.

Und so ist der 9. Oktober der Gedenktag der Unbequemen, derer, die an den Verhältnissen litten und sich nicht mit den Gegebenheiten abfinden wollten. Sie setzten dafür ihre Existenz aufs Spiel, lieferten sich den Zersetzungsmethoden der Stasi aus. Oppositionen dieser Art sind in der Regel nicht regierungsfähig, und zum Glück für die heutige Bundesrepublik ist nicht alles Wirklichkeit geworden, was im Herbst der DDR geträumt wurde. Doch diese Opposition war der Sauerteig, der zur rechten Zeit aufging. Jede menschliche Gesellschaft braucht diese Quertreiber für das Gute - auch die jetzige Bundesrepublik, die wenig mit dem Erbe der friedlichen Revolutionäre aus den Kirchenkellern anfangen kann. Sie nerven, die Quertreiber. Sie übertreiben. Sie sind kompromisslos bis zur Selbstverleugnung. Sie stören den Betrieb des Staates und der Verwaltungen, der Gewerkschaften Parteien, Kirchen, Unternehmen. Doch ohne sie verfettet die Demokratie - wie jemand, der nur süßen Brei isst und nie Schwarzbrot kaut.

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