100 Jahre Erster Weltkrieg:Vom Fliegen und Fallen

Marine-Luftschiff "L 2" (LZ 18) im Landeanflug, 1913

Das deutsche Marineluftschiff "L 2" (LZ 18) beim Landeanflug im frühen Herbst 1913. Wenig später stürzte das Gefährt bei Johannisthal aus einer Höhe von etwa 200 Metern brennend ab. Die gesamte Besatzung kam uns Leben.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

1914 blüht die Wirtschaft, Frauen drängen ins öffentliche Leben, Erfindungen begeistern die Menschen, man spricht sogar über Sex - bis der Erste Weltkrieg ausbricht. Wie vor 100 Jahren der Krieg das blühende Deutschland in die Katastrophe stürzt.

Von Laura Hertreiter

Am 4. Februar 1912 erklimmt Franz Reichelt die unterste Plattform des Eiffelturms. Ein Bein stellt er auf einen Hocker, ein Bein auf das Geländer, dann zögert er. Sein Atem kondensiert vor dem schnurrbärtigen Gesicht zu kleinen Wolken. Um ihn herum surren Kameras, Reichelt hat an diesem Tag eine Menge Journalisten eingeladen. Sie sollen zu Zeugen werden. Denn er hat Großes vor.

Franz Reichelt ist ein Erfinder aus Österreich, und er plant einen Rekordsprung: Mit selbstgeschneiderten Flügeln will er den Pariser Eiffelturm hinab, dieses damals höchste Bauwerk der Welt, das wie kein anderes für die neue Zeit steht. Es ist ein würdiger Ort für eine tollkühne Idee, denn Reichelt will fliegen, ein moderner Ikarus will er sein. Die Journalisten äußern Bedenken, immerhin hat Reichelt seinen Anzug nie getestet.

Es geht voran, überall

Aber der Erfinder wischt alles beiseite, er steht jetzt auf der Plattform, es gibt kein Zurück. Der dunkle Fledermausanzug spannt sich wie ein flatterndes Zelt hinter seinem Rücken über den Kopf, das Gewicht zieht ihn nach hinten, Reichelt lehnt sich nach vorn. Doch bevor er springt, hält er den Atem an, nur für einen Augenblick.

Alles scheint möglich in diesem Moment. In den vergangenen Jahren haben bahnbrechende Erfindungen und Entdeckungen das Leben der Menschen umgekrempelt und den Glauben an einen nie endenden Fortschritt geschürt. Flugzeuge aus Holz und Leinen stellen immer neue Rekorde in Weite, Höhe und Zahl der transportierten Gäste auf. Die Fliegerei ist Smalltalk-Thema Nummer zwei, gleich nach dem Wetter. Man bespricht die Flugschauen und bejubelt deutsche Luftpioniere wie Hans Grade oder August Euler. Warum nicht selbst fliegen? Es scheint wie selbstverständlich, der nächste Schritt. Wer will da zweifeln? Es geht doch voran, überall.

Franz Reichelt

Der waghalsige Erfinder Franz Reichelt in seinem Flugkostüm.

(Foto: Quelle: Wikimedia Commons)

Gerade Deutschland floriert. Zu Beginn des Jahres 1914 rechnet Vizekanzler Clemens Delbrück im Reichstag vor, dass die deutsche Wirtschaft im Export Frankreich und die Vereinigten Staaten überrundet habe. Außerdem staunt man über Fortschritte in der Medizin. Seit Anfang des Jahrhunderts haben Mikroskope Keime und Krankheitserreger sichtbar gemacht, es gibt Bluttransfusionen und erste Gehversuche in der Strahlentherapie. Und der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen hat den menschlichen Körper für Ärzte durchsichtig und analysierbar gemacht.

Am Ende desselben Jahres, als Granaten, Minen und Maschinengewehre an der Front Arme, Beine, Hände zerfetzen, wird es andere Erfindungen geben: Prothesen. In den USA tüftelt man an ersten beweglichen Modellen aus Holz und Metall.

Ein Symbol für den Niedergang Europas

Aber das ist noch weit weg. In Hamburg wird 1914 ein pechschwarzes Rekordschiff zu Wasser gelassen: Die Vaterland ist ein 290 Meter langer Transatlantikliner, in diesem Jahrhundert wird es kein größeres Passagierschiff unter deutscher Flagge, kein größeres Dampfschiff mit Kohlefeuerung geben. Die Nation ist stolz.

Bei Kriegsausbruch im Sommer schippert die Vaterland durch amerikanische Gewässer. Sie wird aus dem Verkehr gezogen, bleibt in New York und wird 1917 als Truppentransporter Leviathan für US-Soldaten eingesetzt. So wird sie zum Symbol für den Niedergang des stolzen, alten Europa.

Man spricht 1914 - mal lauter, mal leiser - auch über Sex

Doch was jetzt zählt, ist der Rekord. Neben Fortschritt und Pioniergeist spricht man 1914 - mal lauter, mal leiser - auch über Sex. In Gesprächen über Sigmund Freud etwa, der gerade "Totem und Tabu" veröffentlicht hat und mit seinen Theorien über das Unbewusste die Seele des Bürgertums seziert. Oder in Gesprächen über die Kunst: Denn viele Maler brechen gerade mit den Anstandsregeln der alten Malerei, allen voran die österreichische Avantgarde.

Auf Gemälden von Egon Schiele oder Gustav Klimt räkeln sich junge Körper; nackt, unzensiert, obszön. Und Kondome aus elastischem Kautschuk erobern den Markt, vor zwei Jahren hat Gummifabrikant Julius Fromm in seiner Hinterhoffirma in Berlin eine Methode erfunden, sie nahtlos herzustellen. Mit der Verhütung verändert sich ganz konkret die Bedeutung von Sex.

Feldbestellung in Berlin-Charlottenburg, 1915

Gegen den Hunger: Schülerinnen bestellen 1915 Brachland in Berlin-Charlottenburg, um Lebensmittel anzubauen.

(Foto: Scherl/SZ Photo)

Auch sonst kracht es im morschen Geschlechtergefüge. Frauen fordern politische Rechte, sie gehen arbeiten, steigen aufs Fahrrad. Am 8. März versammeln sich viele von ihnen auf den Straßen, um für ihr Wahlrecht zu demonstrieren. Es ist der dritte Weltfrauentag in der Geschichte - und wird für die kommenden Jahre der letzte sein, in dem es um Frauenrechte geht.

Die folgenden sollten vielmehr als Aktionstage gegen den Krieg genutzt werden. Erst 1918 werden Frauen in Deutschland wählen dürfen; 16 Jahre nach den Frauen in Australien, ein Jahr nach den Frauen im islamischen Aserbaidschan.

Die Prostitution boomt, die Krankenpflege ebenfalls

Von 1914 an wird erst einmal der Krieg die Geschlechterrollen diktieren. Tausende Männer räumen ihre Arbeitsplätze in Industrie, Staatsdienst und Landwirtschaft, sie ziehen an die Front. Der Staat zahlt den Familien der Soldaten einen Unterhaltsbeitrag, aber der reicht kaum zum Leben. Deshalb schließen sich Frauen in Vereinen zusammen, sammeln Geld und Sachspenden, organisieren Mahlzeiten für Bedürftige und halten Vorträge über sparsame Haushaltsführung.

Die Prostitution boomt, die Krankenpflege ebenfalls. Und viele Frauen beginnen in Berufen zu arbeiten, die vorher Männersache waren, etwa als Briefträgerinnen, Schaffnerinnen oder Straßenarbeiterinnen. Erstmals haben sie ein eigenes Einkommen, sind aber trotzdem vor allem eines: billige Ersatzkräfte.

Frauen verdienen in der Regel höchstens 40 Prozent des Männerlohnes. Sie seien nicht so belastbar, nicht so leistungsfähig, heißt es. Arbeiterinnen in der Rüstungsindustrie, in Munitions-, Pulver- und Stacheldrahtfabriken, schuften unter Lebensgefahr bis zu 13 Stunden täglich, auch nachts, auch sonntags, Überstunden werden nicht bezahlt.

Unfälle, Krankheiten und Fehlgeburten häufen sich. Nachts liegen viele von ihnen wach, aus Sorge um Väter, Brüder und Söhne im Krieg. Mit dessen Ende kehren die überlebenden Soldaten in ihre Berufe zurück und lösen die weiblichen Ersatzkräfte wieder ab. Kriegswitwen sind dann nur noch Bittstellerinnen, angewiesen auf Almosen.

Schon in den Kinderzimmern sind die Rollen bislang klar verteilt. Mädchen in Kleidchen frisieren Puppen, Jungs in Hosen hetzen Zinnsoldaten auf Teppichschlachtfeldern aufeinander. In den Regalen stehen Grimm- und Andersen-Märchen. Doch auch hier nimmt der Krieg immer größeren Platz ein. "Des Kriegers Abschied" wird zum Topos: Auf Postkarten, auf gestickten Wandbildern oder in Gestalt einer Figurengruppe aus Porzellan klammert sich eine wehmütig schmachtende Frau an einen strammen, uniformierten Vaterlandsverteidiger. Der Krieger ist Held, der Krieg ist Abenteuer.

In den Regalen der Läden liegen Anfang 1914 Zigaretten aus Amerika, Rindfleisch aus Uruguay und Kupfer aus Peru. Die Welt hat sich in ein modernes Warenhaus verwandelt. Züge und Schiffe haben Transportwege geschaffen, die für frühere Generationen undenkbar gewesen sind.

Ein Drittel der in Deutschland konsumierten Lebensmittel stammt aus dem Ausland, das Reich ist der weltweit größte Importeur von Agrarprodukten. Eingekauft wird schon damals nach dem Treueherzen-Prinzip: Die Firma Liebig zum Beispiel bietet seit 1875 Fleischextrakt in Dosen mit Sammelbildchen an. Kurz vor dem Krieg reißen sich die Kunden um Militärmotive wie das erste Luftschiff der britischen Armee.

Woche für Woche bröckeln die Illusionen

Verteilung von Heimarbeit, 1917

Heimarbeit: Rot-Kreuz-Schwestern verteilen Stoffe zur Bearbeitung an Frauen, 1917.

(Foto: SZ Photo/SZ Photo)

In der zweiten Jahreshälfte werden sich die Warenpreise vervielfachen, schließlich bleiben die Regale in den Läden leer. Importe aus Russland, Polen und Übersee fehlen. Deutsche Bauern kämpfen an der Front, statt ihre Felder zu bestellen. Brot und Kartoffeln fehlen als Erstes. Ab 1915 wird die Regierung Lebensmittel rationieren und Lebensmittelmarken ausgeben.

Die "Reichskartoffelstelle" legt als Bedarf für einen erwachsenen Menschen ein Pfund pro Tag fest. Im Jahr darauf wird sich der Hunger noch verschärfen. Die Ernte wird um die Hälfte zurückgehen, die Städte werden ihre Bewohner mit Steckrüben versorgen, um sie vor dem Hungertod zu bewahren. Der Winter ist hart, schon die Zeitgenossen sprechen vom "Steckrübenwinter". Steckrüben sind eigentlich Viehfutter. In der Kälte sterben Hunderttausende Menschen an Hunger und an den Folgen von Unterernährung.

Aber noch ist 1914, noch kauft man Fleisch und sammelt Luftschiffbildchen. Ein Luftschiff wird es sein, das den Luftkrieg eröffnet: Der Flug eines deutschen Zeppelins nach Lüttich in den frühen Morgenstunden des 6. August ist der erste Luftangriff des Krieges. Neun Zivilisten sterben, getötet von Bomben aus der Luft. In den folgenden Jahren werden Bomber und Jagdflugzeuge über den Himmel jagen. Das Flugzeug, eben noch Symbol einer höhenflug- und rekordschwindeligen Nation, verleiht dem Krieg eine neue Dimension.

Mit glänzenden Pickelhauben an die Front

1914 ist auch das Jahr, in dem die Nation noch mit einem Heer in Paradeuniform funkelt, und in dem die Bevölkerung ihren militärischen Stubenschmuck poliert. Soldaten marschieren mit glänzenden Pickelhauben an die Front, dazu tragen sie taillierte Uniformjacken: silbergeknöpft, rotgesäumt, mit Schulterklappen. Scharen von Bürgern treten in vom Staat geförderte Kriegsvereine ein, die eine militärfromme, nationale und monarchische Gesinnung pflegen und die Mitglieder gegen die Sozialdemokratie immunisieren sollen. Der "Kyffhäuserbund" etwa hat fast drei Millionen Mitglieder.

Die Begeisterung wird später umschlagen, als Zerstörung, Hunger und Tod das Land beherrschen. Während der ersten beiden Kriegsjahre gibt es nur wenige Proteste, die Menschen glauben an einen kurzen, dann zumindest an einen siegreichen Krieg. Diese Illusion bröckelt mit jeder Woche. Und als Karl Liebknecht nach einer Antikriegsrede am 1. Mai 1916 festgenommen, des Hochverrats angeklagt und zu vier Jahren und einem Monat Zuchthaus verurteilt wird, strömen in Berlin massenhaft Menschen für den Frieden auf die Straßen.

Im April des darauffolgenden Jahres, im lang ersehnten Frühling nach dem "Steckrübenwinter", legen zahlreiche Frauen in der Industrie ihre Arbeit nieder und streiken für eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln. Ausgezehrt, müde, hungrig. Ihr Protest bricht ohne nennenswerten Erfolg zusammen.

Im Januar 1918 gehen abermals Hunderttausende Arbeiter auf die Straßen. Für ein sofortiges Kriegsende, für Demokratie und bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Mit der Verehrung des militärischen Ideals ist es vorbei. "Des Kriegers Abschied", die Porzellanfigur aus vergangener Zeit, hat sich gewandelt: vom heroischen Vorbild zur Schreckensvision: Zu viele Krieger sind niemals heimgekehrt.

Irrtümer und Selbstüberschätzung

Jene Porzellanfigur aus dem Jahr 1914, aber auch Zinnsoldaten und Röntgengeräte erzählen die Geschichte eines gewaltigen Höhenfluges, von Fortschritt, Aufschwung, Selbstbewusstsein. Gleichzeitig erzählen sie die Geschichte von Irrtümern und Selbstüberschätzung. Sie erzählen eine Geschichte, die der österreichische Erfinder Franz Reichelt Jahre zuvor im Kleinen vorweggenommen hat.

Reichelt steht lange auf der Brüstung des Eiffelturms, gehüllt in seinen Fledermausanzug, und blickt nach unten. Vielleicht erfassen ihn selbst leise Zweifel, niemand weiß es. Er atmet tief durch, breitet die Arme aus und macht einen Schritt nach vorne. Es ist kein Sprung mehr, es ist ein Fallenlassen. 57 Meter sind es bis zum Boden, weniger als vier Sekunden. Dann schlägt er ungebremst auf dem Boden auf und stirbt.

szw

Der Text ist dem SZ-Buch "Menschen im Krieg" entnommen. Es enthält weitere Essays über den Ersten Weltkrieg und seltene Fotos aus dem SZ-Archiv. Erhältlich ist das Buch unter sz-shop.de für 24,90 €, für SZ-Abonnenten 21,10 €

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