20 Jahre deutsche Einheit:Es blüht etwas im Osten

2000 Kilometer auf der Straße, mehr als 40 Interviews und 19 Stunden Filmmaterial: sueddeutsche.de ist sieben Tage durch Ostdeutschland gefahren. Eine Suche nach blühenden Landschaften. Start einer Serie über den Erfolg der Einheit.

Wolfgang Jaschensky

Wir haben in der Redaktion lange darüber diskutiert, wie unser Spezial zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit heißen soll. "Unser Osten" war der erste Einfall und der Arbeitstitel. Aber geht das als offizieller Titel? "Unser Osten"? Das könnte etwas mitleidig, fast abfällig klingen, war der erste Einwand. Oder zu stolz? Unser Haus, unsere Yacht, "unser Osten"? Müssen wir 20 Jahre nach der deutschen Einheit nicht endlich soweit sein, Mecklenburg-Vorpommern zu Norddeutschland zu zählen? Und liegt Thüringen nicht im Herzen dieser Republik? Vor allem aber: Die eingebaute Wessi-Perspektive! Sagt da nicht jeder Cottbusser, Rostocker und Magdeburger: "Geht gar nicht!"?

Unser Osten

Zu DDR-Zeiten war die Banane ein Symbol für Konsum, für Exotik - für den Westen. 20 Jahre nach der deutschen Einheit finden sich in vielen Städten im Osten die Bananen von Thomas Baumgärtel, mit denen der Künstler herausragende Museen und Galerien adelt. Das Foto ist auf dem Gelände der Alten Baumwollspinnerei in Leipzig entstanden.

(Foto: Wolfgang Jaschensky)

Am Ende sind wir trotz dieser Einwände bei diesem Titel geblieben. Wessi-Perspektive? Ja klar, aber die Redaktion von sueddeutsche.de sitzt nun mal in München und weder der Autor dieser Zeilen noch sein Begleiter hinter der Kamera kommen aus Ostdeutschland. Außerdem ist der Vorwurf noch mehr im Ost-West-Schema verankert, als der Titel es ist. Vor allem aber: Sollten wir 20 Jahre nach der deutschen Einheit nicht entspannt genug sein, "unser Osten" zu sagen, ohne eine ideologische Diskussion fürchten zu müssen?

Mitleid erregen soll der Titel jedenfalls nicht, eher schon darf ein kleines bisschen Stolz mitschwingen. Denn schon während der Recherche für die Reise, die uns quer durch alle "neuen Bundesländer" in vier ostdeutsche Städte geführt hat, wurde eines schnell klar: Egal wie groß die Probleme sein mögen, die eine Gemeinde, eine Stadt oder eine Region hat, egal wie schwierig die wirtschaftliche Situation sich für manche Bürger darstellen mag: Mühelos lassen sich überall Menschen finden, die voller Tatendrang und Ideen sind, die Hoffnung verbreiten und Perspektiven aufzeigen.

Da ist die junge Architektin in Hoyerswerda, die eine Vision für eine Stadt entwickelt und transportiert, die noch vor zehn Jahren drohte, zugrunde zu gehen. Da sind die Theatermacher in Leipzig, die wider jeder wirtschaftlichen Vernunft aus dem Nichts eine Bühne aufbauen, um ambitioniertes Regietheater für ein anspruchsvolles Publikum zu bieten - und das ganz ohne staatliche Unterstützung. Da ist der Gastronom in der schrumpfenden Kleinstadt Wittenberge, der in einem der strukturschwächsten Gebiete der Republik mit einer anspruchsvollen Küche auf einen wachsenden Strom von Touristen am Elberadweg setzt. Und da ist der einst arbeitslose Werftarbeiter in Stralsund, der mit einer guten Idee und betriebswirtschaftlichem Geschick ein prosperierendes Familienunternehmen gegründet hat.

"Blühende Landschaften" hat Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit, den Deutschen im Überschwang der friedlichen Revolution versprochen. Die Erwartungen vieler Menschen in Ost und West waren groß, aber das Versprechen so unrealistisch, dass es schnell zum abgedroschenen Witz wurde. Statt "blühender Landschaften" machte sich Enttäuschung breit.

Im Ostbild vieler Westdeutscher blieb zwischen Rechts- und Linksextremismus, Ausländerfeindlichkeit und Stasi-Erbe wenig Platz für Positives. Im Osten verdrängten wirtschaftliche Probleme die Euphorie der Revolution. Belächelt vom Besser-Wessi, abgehängt von der real existierenden Marktwirtschaft, empfanden viele Ostdeutsche Kohls Versprechen als Zynismus.

20 Jahre nach der Einheit hat sich das vereinigte Deutschland entspannt. Die erste Generation von jungen Erwachsenen, die die DDR nur aus Geschichtsbüchern kennt, drängt an die Universitäten und auf den Arbeitsmarkt. Von blühenden Landschaften ist kaum mehr die Rede. Dabei finden sich heute mehr Anzeichen für eine Blüte im Osten als je zuvor.

Große Träume, großes Theater

Deshalb haben wir uns auf die Suche gemacht nach den "blühenden Landschaften". Wir haben mit Fischern an der Ostsee gesprochen und mit Mitarbeitern in einem Braunkohlekraftwerk in der Lausitz, wir haben Unternehmer und Manager getroffen, die aus einem Studenten-Start-up einen 800-Mitarbeiter-Konzern aufgebaut haben oder in einem DDR-Industriedenkmal energiesparend Silizium für die schnellsten Computerchips produzieren. Wir haben uns mit Studenten unterhalten, die große Träume haben und sich keinen besseren Studienort vorstellen können als Leipzig. Wir haben mit Stadtplanern und Bürgermeistern gesprochen, mit Managern und einem Zwangsverwalter, mit engagierten Bürgern und Pfarrern. Eines verbindet sie alle: Sie leben gerne im Osten.

Natürlich gibt es noch die Alten, die nicht weg können, obwohl sie wollten, weil sie nicht wissen, wohin sie sonst sollen. Natürlich gibt es die Jungen, die nur auf die nächstbeste Gelegenheit warten, weit weg von der Heimat zu kommen. Und natürlich gibt es die Unzufriedenen, die den Absprung nicht schaffen oder nicht schaffen wollen. Aber immer weniger Menschen zieht es von Ost nach West, gleichzeitig steigt die Zahl der Menschen, die den umgekehrten Weg gehen.

In Berlin sind es vor allem die Ost-Stadtteile Mitte, Friedrichshain und Prenzlauer Berg, die dafür sorgen, dass Menschen auf der ganzen Welt die deutsche Hauptstadt für die aufregendste Stadt der Erde halten. Leipzig erobert mit Künstlern wie Neo Rauch die Museen in aller Welt und zieht mit seiner Kultur- und Kneipenszene, mit günstigen Mieten, sanierten Altbauten und jungen Unternehmen wieder Menschen aus ganz Deutschland an. Städte wie Görlitz, Stralsund oder Weimar erstrahlen in altem Glanz und sind doch mehr in der Gegenwart angekommen als manch pittoreskes Städtchen in Westdeutschland. Und selbst in strukturschwachen Regionen und in massiv schrumpfenden Städten wie Wittenberge, Halle an der Saale oder Hoyerswerda verändert sich manches zum Besseren.

Unsere Reise hat von Hoyerswerda über Stralsund nach Wittenberge und schließlich Leipzig geführt. All diese Städte stehen vor Problemen und Herausforderungen. Hoyerswerda leidet noch heute unter dem Stigma der ausländerfeindlichen Ausschreitungen von 1991 und hat seit der Wiedervereinigung fast jeden zweiten Einwohner verloren. Keine kreisfreie Stadt in Ostdeutschland hat eine höhere Arbeitslosenquote als Stralsund. Wittenberge musste unmittelbar nach der Wende die Pleite von drei großen Industrieunternehmen verkraften - und damit den Verlust von 90 Prozent der Arbeitsplätze. Und selbst Leipzig, der nach Berlin größten Stadt im Osten, fehlen große Firmen.

In vier Filmen stellen wir die vier Städte und einige ihrer Bewohner vor. Daneben entstanden vier Reportagen, die sich mit vier Themen auseinandersetzen: Demographie, Wirtschaft, Politik und Leben.

Bildstrecken, eine Reise-Slideshow, ein Fotowettbewerb und interaktive Grafiken mit zusätzlichen Informationen ergänzen das Spezial. In den kommenden Tagen werden immer wieder einzelne Elemente auf der Homepage von sueddeutsche.de präsentiert. Sie können das gesamte Spezial aber schon ab sofort auf dieser Seite erkunden. Viel Spaß!

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: