Merkels Rückzug:Es fehlt ein erneuernder Gesellschaftsentwurf

Merkels Rückzug: Friedrich Merz und Angela Merkel 2003 - nein, die Zeit ist seitdem nicht stehen geblieben, obwohl seine Kandidatur als ihr Nachfolger diesen Eindruck erweckt.

Friedrich Merz und Angela Merkel 2003 - nein, die Zeit ist seitdem nicht stehen geblieben, obwohl seine Kandidatur als ihr Nachfolger diesen Eindruck erweckt.

(Foto: Sean Gallup)

Friedrich Merz will "Aufbruch und Erneuerung". Das erinnert an den Neubau des Berliner Stadtschlosses: Vergangenes wird rekonstruiert. Die Zukunft ist das nicht.

Von Jagoda Marinić

Als Friedrich Merz seine Kandidatur für den Vorstand der Christlich Demokratischen Union bekannt gibt, werfe ich einen Blick auf meine Uhr, um sicherzugehen, dass die Zeit nicht stehen geblieben ist.

Jener Friedrich Merz ist wieder da, der um die Jahrtausendwende die deutsche Öffentlichkeit um die Leitkulturdebatte bereicherte. Lang ist das her, so lang, dass die Junge Union tatsächlich noch eine weibliche Vorsitzende hatte. Merz drang damals darauf, die Einwanderungsdebatte zum Wahlkampfthema zu machen. In Deutschland heißt das immer, drastisch und demonstrativ Politik gegen Minderheiten zu machen. Der damalige CSU-Chef Edmund Stoiber hatte dafür viel Sympathie übrig. Welche Migrationskrise die Grundlage für die geforderte Anti-Einwanderungs-Kampagne war, erinnere ich nicht mehr, denn irgendeine Migrationskrise macht Deutschland immer durch - ob das nun an den Krisen der Migration liegt oder der Dauerkrise der deutschen Diskurse.

Friedrich Merz vermochte sich nicht durchzusetzen. Für die meisten Einwanderer war das kein Verlust, um einmal die Sichtweise einer vieldebattierten Randgruppe ins Spiel zu bringen, die bei Diskussionen über Migration kaum eine aktive Rolle spielt. Als Spielball hingegen wird sie gern benutzt. Friedrich Merz gab sich geschlagen und zog sich aus der Politik zurück. Sein Name fiel nur noch, wenn es um jene Alphatiere ging, die Merkel im Laufe ihrer Karriere hinter sich gelassen hat.

Nun steht da ein Mann, der Macht gewohnt war und nach einem Jahrzehnt Pause wieder selbstbewusst nach politischer Macht strebt. Das überrascht nicht weiter. Wenn andere machtbewusste Männer jetzt begeistert sind, ihresgleichen an die Macht streben zu sehen, überrascht das auch nicht. Überraschend wird es erst von dem Moment an, da Merz vor der Hauptstadtpresse erklärt: "Wir brauchen Aufbruch und Erneuerung." Man hört in diesem Moment die zehn Jahre, die Merz nicht in der Politik, sondern für die freie Wirtschaft als Lobbyist arbeitete, förmlich unter den Tisch fallen.

Selbst der Vorwurf, Merz könnte durch seine Tätigkeiten in Aufsichtsräten von dem unerhörten Steuerbetrug um Cum-Ex gewusst haben, spielt für manche keine wichtigere Rolle als die Tatsache, dass Merz es tatsächlich geschafft hat, zwei Meter groß zu werden.

Seither denke ich über Aufbruch und Erneuerung in Deutschland nach. Wer darf dies beides als Agenda beanspruchen? Wer erinnert sich überhaupt noch daran, was das sein könnte, Erneuerung? Wo sind die Stürmer und Dränger der Bundesrepublik im 21. Jahrhundert?

Die Geschichte der Erneuerung entwickelt sich hierzulande zunehmend zu einer Geschichte des Scheiterns. Da wäre einmal die SPD, die mit "SPD erneuern" auszog, sich selbst zu retten. Statt sich zu retten, ist sie nach den beiden jüngsten Landtagswahlen fast verschwunden, garniert mit Floskeln der Erneuerung.

Ein anderes Beispiel: das Bauprojekt Berliner Schloss. Nach zähestem Ringen einigten sich die Verantwortlichen auf die Wiederherstellung des historischen Stadtbilds. Natürlich, es wird ein paar kleine moderne Irritationen geben, aber im Wesentlichen soll die historische Dominanz nicht gestört werden. Und eines Tages wird die Vergangenheit eröffnet. In der Frankfurter Altstadt ist diese rekonstruierte Vergangenheit bereits zu besichtigen.

Da drängt sich das Gedankenspiel auf: Wäre es möglich, Friedrich Merz zu wählen - und so zu tun, als hätte es Angela Merkels Versuche der Modernisierung der Mitte nicht gegeben? Wie beim Berliner Schloss könnte man das 21. Jahrhundert nur an den Rändern aufblitzen lassen, als wäre die Moderne das Verschwundene, wofür es eine Referenz braucht. So manche Konservative hoffen, auf diese Weise die rechten Kräfte wieder einzudämmen. Das extrem Rechte soll also wieder zurück in die Mitte ziehen. Wie wäre es mit einem mutigen Konservatismus, der nach vorne geht? Widerstände lassen sich auch selbstbewusst als das Aufbäumen des Alten deuten, statt es zu einer reaktionären Zukunftsbewegung zu stilisieren. Die ständige Flucht in die Rekonstruktion wird zum Symptom der Furcht vor der Zukunft.

Erschreckend ist dabei die Praxis, jüngere Generationen und ihre Vielfalt auszuschließen. Erneuern, das wäre das Identifizieren zeitgemäßer Probleme, diese werden jedoch von den alten Diskursschleifen überlagert. Eingespielte Teams aus Bundespolitikern und Medienvertretern gehen politische Fragen mit bewundernswerter Ignoranz so an, als würden junge Menschen und Minderheiten nicht existieren. Erneuern, das hieße auch, nicht ständig die Gegenwart zu beschädigen, indem man so tut, als ob das Alte ewig währt.

Es fehlt ein erneuernder Gesellschaftsentwurf. Die Vereinigten Staaten, einst das Vorzeigeland der Erneuerung, werden von Donald Trump dekonstruiert. Seine Dekonstruktion ist die Rekonstruktion des Alten Europa: mehr Nationalismus, mehr Ausgrenzung, weniger Bürgerrechte. Der viel zitierte und belächelte Satz, Merkel sei nun die Anführerin der freien Welt, wurde immer nur auf Merkel hin gelesen. Mehr als ein Satz über Merkel war das ein Hinweis darauf, wie sehr sich das Bild der Deutschen in der Welt gewandelt hatte. Die Deutschen haben sich in weiten Teilen erneuert. Sie sind ein Volk, dem man viel Gutes zutraut. Unter anderem Hilfe für eine Million Menschen auf der Flucht.

Im Zeitalter der autoritären Männer haben die Deutschen eine Frau zur Kanzlerin gewählt, die kein Big-Man-Gehabe nötig hat, um die europäische Führungsrolle auszufüllen. Kaum hat Merkel ihren Rückzug angekündigt, fahren die Bagger an und die Kräne: Deutschland müsse sich erneuern. Die Bürger dieses Landes könnten sicherstellen, dass gesellschaftliche Erneuerung keine Großbaustelle der Rekonstruktion ist. Zukunft muss machbar sein. Gerade hier.

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Kolumne von Jagoda Marinić

Jagoda Marinić, Jahrgang 1977, ist Schriftstellerin, Kulturmanagerin und Journalistin. Auf Twitter unter @jagodamarinic. Sie studierte Politikwissenschaft, Germanistik und Anglistik an der Universität Heidelberg. In ihrem aktuellen Debattenbuch "Sheroes" plädiert sie für ein lebhaftes Gespräch unter den Geschlechtern. Alle Kolumnen von ihr finden Sie hier.

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