Italiens Ministerpräsident Berlusconi:Ein Clown in ernster Rolle

Das Phänomen Berlusconi: Warum so viele Italiener einen Mann unterstützen, den viele für gefährlich und unanständig halten.

Gian Enrico Rusconi

Der italienische Politikwissenschaftler Professor Gian Enrico Rusconi ist Direktor des Historischen Instituts in Trient.

Italiens Ministerpräsident Berlusconi: Umstrittener Politiker: der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi

Umstrittener Politiker: der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi

(Foto: Foto: Reuters)

Silvio Berlusconi hat den letzten politischen Test gut überstanden, die Europawahlen, die in Italien als Abstimmung für oder gegen ihn verstanden wurden. Er hat nicht die große Unterstützung bekommen, die er sich gewünscht hat, er musste aber auch keine deutlichen Verluste hinnehmen. Der italienische Sonderweg setzt sich damit fort.

An der Regierung und sogar im Zentrum des gesamten politisch-öffentlichen Lebens steht also ein Mann, der nach Meinung angesehener Zeitungen und ausländischer Kommentatoren in anderen europäischen Staaten längst hätte zurücktreten müssen - wegen politischer Unanständigkeit.

Die Gründe sind bekannt: Interessenskonflikt, fortdauernde Probleme mit der Justiz, ein diskussionswürdiges Privatleben, verbale Zügellosigkeiten gegenüber seinen Gegnern usw. Hier stellt sich die Frage: Warum unterstützt eine große Zahl Italiener einen Mann, den viele Kommentatoren als gefährlichen Clown einschätzen?

Ist das ein Zeichen für eine nationale Krankheit? Warum akzeptieren Millionen Italiener die Erklärungen, die Berlusconi selbst zur Rechtfertigung seines politischen und privaten Verhaltens liefert und es so schafft, sich als Opfer der italienischen Justiz, der Linken und der ausländischen Zeitungen darzustellen? Warum sind die Gegner Berlusconis politisch so impotent?

Abgesehen von den sarkastischen Darstellungen, die Zeitungen und Zeitschriften täglich anbieten, sind sachliche politologische Erklärungen zu suchen. Sie können in drei Punkte unterteilt werden:

1. Der "demokratische Populismus" in der Version Berlusconis ist eine Mutation der Demokratie und muss in seinem Ursprung untersucht werden;

2. Dieser ist Ausdruck einer konfliktreichen, tief unzufriedenen, frechen Zivilgesellschaft;

3. Abgesehen von der Person Berlusconi ist es notwendig, vom Phänomen des "Berlusconismus" zu sprechen, denn längst hat sich innerhalb und außerhalb seiner Partei Volk der Freiheit eine breite politische Klasse gebildet, die schon an die Zeit nach Berlusconi denkt. Im Moment kommt diese Klasse nicht ohne ihn aus und stellt sich deshalb schützend um ihn, verteidigt jede seiner Äußerungen, weil ihre eigene politische Existenz als neue politische Klasse auf dem Spiel steht.

Vor diesem Hintergrund ist noch einmal der Begriff des Medienpopulismus zu betrachten, der auch in Deutschland verwendet wird, um das "Phänomen Berlusconi" zu erklären. Die Behauptung, in Italien herrsche eine Art Mediendiktatur oder die Freiheit der Kritik würde eingeschränkt, ist übertrieben. Natürlich besteht heute in Italien eine Kontrolle des öffentlichen Fernsehens von Seiten der Regierung Berlusconi, die eine zu deutliche Kritik an der Regierung verhindert.

Es gibt aber bedeutende nationale Zeitungen und Fernsehsendungen, in denen Kritik lebhaft geäußert und von vielen Lesern und Zuschauern beachtet wird. Dennoch ist eine wachsende Selbstzensur von Journalisten zu bemerken, die für das Fernsehen oder die gedruckte Presse arbeiten.

Auch der Ausdruck "demokratischer Populismus" verdient eine Präzisierung, die uns in das Herz einer neuen politischen Kultur führt. Die Struktur von Berlusconis Wählervolk ist im Hinblick auf die traditionellen Klassen-Aufteilungen und ihre konventionellen parteipolitischen Ausprägungen aufgelöst. Sie gleicht sich nur in der (scheinbaren) Unmittelbarkeit im Verhältnis Parteichef-Wähler.

Glücklich oder unglücklich

Die soziale Schichtung hat objektiv nicht ihre wesentlichen Klassen-Kennzeichen verloren, subjektiv ist sie aber wegen der Verschiedenheit der Verdienstquellen und Arbeitsstellen, der Vielzahl der Lebensstile und des Konsums und vor allem wegen der Selbstwahrnehmung der Betroffenen extrem komplex geworden.

Es ist kein Zufall, dass Berlusconi nie von "sozialen Klassen" spricht, sondern von "glücklichen/unglücklichen Bürgern", von "Privilegierten/Benachteiligten", von niedrigen Klassen, die von denen gebildet werden, die "zurückgeblieben" sind. Er verspricht allen eine allgemeine Verbesserung, vorausgesetzt, man lässt ihn gegen die bestehende Ordnung der Institutionen vorgehen, die jede Erneuerung verhindern, und lässt ihn gegen die Linke arbeiten, die ihn "hasst".

Der Berlusconismus hat die Gegenüberstellung in Freund/Feind wieder salonfähig gemacht. Und damit findet er Anklang.

Eine tief gepaltene Gesellschaft

An dieser Stelle bedarf es einer wichtigen Präzisierung. Wenn Analytiker das Phänomen Berlusconi erklären, verweisen sie auf die Fremdheit zwischen dem "politischen System" (ineffizient, unzulänglich) und der "Zivilgesellschaft" (lebendig und reich an Ressourcen und Energien). Aus diesem Gedanken heraus rufen viele auf Seiten der Linken nach einer italienischen Zivilgesellschaft, die sich gegen Berlusconi auflehnen möge.

Das ist ein Irrtum. Tatsächlich ist der Berlusconismus selbst Ausdruck der italienischen Zivilgesellschaft. Oder, wenn man so will, seiner tiefen Orientierungslosigkeit. Viele soziale Krankheiten (Abwesenheit von Bürgersinn und Staatssinn, tief verwurzelte Verbundenheit vieler Regionen und sozialer Gruppen mit Mafia und Camorra, unsolidarisches Verhalten und latenter Rassismus) kommen nicht von außen, sondern aus dem Bauch der Zivilgesellschaft.

Es hat also keinen Sinn, die Zivilgesellschaft und das politische System gegenüberzustellen, als ob sie zwei unabhängige Pole wären. Die derzeitige "Veränderung des demokratischen Systems" ist also nicht Folge des einfachen Willens eines Mannes oder seiner engsten Mitarbeiter. Der Berlusconismus ist das Symptom und die Antwort auf eine Krise parteipolitischer Repräsentation - und auf die Unfähigkeit italienischer Regierungen, Entscheidungen zu treffen.

In diesem Zusammenhang würde es zu weit führen, die Möglichkeiten der Stärkung der Exekutive zu diskutieren. Seit Jahren wird darüber bereits erfolglos debattiert, da sich die Opposition auf Seiten der Linken aber auch die der Parteien im Zentrum (ehemalige Christdemokraten) dagegen versperrt. Dennoch gibt es keinen Zweifel, dass die Idee, der Regierung stärkere Kompetenzen bei ihren Entscheidungen einzuräumen, in Italien immer populärer wird.

Man kann also von einer tief gespaltenen Gesellschaft sprechen, die sozial aufgelöst und zersplittert ist und die mit skeptischer Distanz das persönliche, im Ausland als unerträglich empfundene Benehmen des Premierministers beobachtet. Das ist der Grund, warum es weniger um ein "Phänomen Berlusconi" als um einen "Fall Italien" geht

Übersetzung: Julius Müller-Meiningen

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