Italiens drakonische Flüchtlingsgesetze:Notfall als Normalzustand

Italy mourned the 300 African asylum-seekers feared dead in a boa

Flüchtlinge auf dem Weg zu dem Flugzeughangar auf Lampedusa, in dem die bisher geborgenen Opfer des Schiffsunglücks aufgebahrt sind

(Foto: dpa)

Wer als Seemann Flüchtlinge rettet, riskiert eine Anklage wegen Schlepperei. Klingt absurd, doch in Italien ist dies Rechtslage. 2002 sorgten Postfaschisten und Lega Nord für eine Verschärfung der Gesetze - doch auch linke Regierungen änderten nichts. Nun wollen Kritiker das "unmenschliche" System reformieren. Die Regierung weicht aus und schiebt Brüssel die Schuld zu.

Von Carolin Gasteiger und Johannes Kuhn

Am Dienstag wollen die Taucher ihre grauenvolle Aufgabe vor der Küste Lampedusas erfüllt haben. Dann sollen die letzten Leichen, die 40 Meter unter dem Meeresspiegel im Schiffswrack eingeschlossen sind, geborgen sein.

Mehr als 300 Tote könnte der Untergang des libyschen Flüchtlingsboots am Ende gefordert haben. Das wäre die bislang größte bekannte Katastrophe dieser Art im Mittelmeer, in dem in den vergangenen 25 Jahren Schätzungen zufolge zwischen 17.000 und 20.000 Flüchtlinge umgekommen sind.

Es muss sich etwas ändern. Was genau, davon hat Italiens Integrationsministerin Cécile Kyenge bereits länger eine Vorstellung: Die im Kongo geborene Vertreterin der Partito Democratico (PD) wirbt seit Monaten für eine Reform des Einwanderungsrechts. "Das, was passiert ist, darf nicht noch einmal geschehen", forderte sie am Wochenende bei ihrem Besuch auf Lampedusa. Später legte Kyenge in einem Interview nach: "Die Einwanderungsgesetze dürfen nicht auf Strafe ausgelegt sein." Man werde das Bossi-Fini-Gesetz überprüfen.

Bossi-Fini ist inzwischen ein Synonym für die harte Flüchtlingspolitik Italiens seit 2002. Damals sorgte Chef der rechten Lega Nord, Umberto Bossi, gemeinsam mit dem damaligen Führer der postfaschistischen Alleanza Nazionale, Gianfranco Fini, dafür, dass Asylsuchende leichter abgewiesen werden können. 2008 verschärfte die Regierung Berlusconi die Gesetze weiter: Die illegale Ein- oder Durchreise wurde zur Straftat.

Wenig Rücksicht auf nationale Gesetze oder EU-Verhaltensregeln

Viele Flüchtlinge werden seitdem ohne Rücksicht auf Formalitäten, die die nationalen Gesetze oder EU-Verhaltensregeln vorschreiben, festgesetzt und von der Polizei begleitet, wie Menschenrechtler kritisieren. Diese Strategie verletze nicht nur das in Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschriebene Recht, Asyl zu suchen und zu genießen, sondern auch das Schengen-Abkommen, glauben Experten wie Fulvio Vassallo Paleologo, der an der Universität Palermo Asyl- und Ausländerrecht lehrt.

Doch das Gesetz geht noch weiter - und die Konsequenzen sind immens: Wer mit seinem Boot vor den Küsten Italiens unterwegs ist und Flüchtlinge in Seenot aufnimmt, muss seit einigen Jahren zumindest theoretisch damit rechnen, sich als Schlepper strafbar zu machen.

Genau diese Tatsache könnte auch das Unglück vom Donnerstag verstärkt haben: "Drei Fischerboote wollten nicht helfen und überließen das Schiff ihrem Schicksal", berichtete Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin von Lampedusa: "Das geschieht alles, weil unser Land Fischer schon wegen der Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagt hat, wenn sie Flüchtlingen im Meer geholfen haben."

Regierung in Rom blickt nach Brüssel

Eine Lockerung der Einwanderungsgesetze, so das Kalkül der Integrationsministerin, würde die Bestrafung von Lebensrettern beenden. Zudem würden womöglich weniger Flüchtlinge aus Afrika versuchen, mit Hilfe von Schleppern den gefährlichen Weg nach Italien auf sich zu nehmen, wenn diese wüssten, dass Seeleute in Italien sie im Fall eines Schiffbruchs retten würden. Doch ihrer Logik folgen nur wenige, im Gegenteil: Ein Politiker der Lega Nord erklärte, Kyenge habe mit ihren "heuchlerischen Integrationslogik" die in den letzten Monaten im Mittelmeer umgekommenen Flüchtlinge "auf dem Gewissen". Die aus dem Kongo stammende Augenärztin Kyenge wurde seit ihrer Berufung zur Integrationsministerin im April zum Ziel rassistischer Verbalangriffe.

Auch Innenminister Angelino Alfano aus dem Berlusconi-Lager erklärte, eine Reform des Einwanderungsrechts sei "zu simpel". Er betonte die Notwendigkeit, "die Grenzen, Menschenrechte und Rechte der Aufnahme zu schützen". In vielen Staaten Nordeuropas würden viele Flüchtlinge ankommen, jedoch nicht übers Meer. Das Schutzsystem der Grenzen soll deshalb ausgebaut werden, die Flugzeuge und Schiffe von Frontex müssten sie stärker überwachen. Bereits am Dienstag will Alfano seine Forderungen in einer Versammlung der EU-Innenminister vorstellen.

Altes Abkommen mit Libyens Diktator Gaddafi

Selbst Enrico Letta, Ministerpräsident und Parteigenosse Kyenges, schreckt davor zurück, eine Reform ins Spiel zu bringen - womöglich, weil sie in der derzeitigen Koalition mit den rechten Parteien kaum durchsetzbar wären. Vielmehr verweist er darauf, dass Libyen das Problem sei, wo viele Boote ablegen.

Einst hatte Silvio Berlusconi mit dem damaligen Machthaber Muammar al-Gaddafi ein Abkommen geschlossen, wonach die libysche Marine die Insassen von Flüchtlingsbooten in Auffanglager auf dem eigenen Festland bringen sollten. Während dieser Zeit ging die Zahl der Flüchtlinge in Italien tatsächlich nach unten - allerdings kassierte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof diese Vereinbarung, Libyen wäre seit dem Sturz Gaddafis ohnehin kaum in der Lage, die Ausreisewelle zu verhindern.

Inzwischen bringen erste nicht italienische Politiker deshalb ins Spiel, dass auch Länder jenseits der Außengrenzen mehr Flüchtlinge aufnehmen. Denn, so ist inzwischen klar, die italienische Praxis fand unter Duldung anderer EU-Länder statt.

Zu dieser Praxis gehört, so berichten Fischer immer wieder, auch ein zweifelhafter Umgang mit Booten in Seenot. "Die Einsatzkräfte lassen die Schiffe auf See zurück", erklärte ein Fischer aus Lampedusa im Gespräch mit dem TV-Sender Euronews. Auch Marcello Nizza, der am frühen Donnerstagmorgen mit seinem Fischerboot hinausgefahren war, um die Ertrinkenden zu retten, erhebt solche Vorwürfe: Die Küstenwache habe nach seinem Notruf 45 Minuten gebraucht, um die 500 Meter vom Hafen zur Unglücksstelle zurückzulegen - zudem sei seinem Boot nach der Rettung von 47 Flüchtlingen nicht erlaubt worden zurückzukehren, um weitere Menschen zu retten. Die Küstenwache weist dies zurück.

"Es gibt keinen Plan für die Ankömmlinge. Das Einzige, was existiert, ist ein ständiger Notfall", folgert Francesco Rocca, Präsident des Italienischen Roten Kreuzes. Was bleibt, sind Hunderte Tote und 155 Menschen, die das Unglück überlebt haben. Auf sie wartet nun Italiens Justiz. Der Straftatbestand lautet erneut: illegale Einwanderung. Ihnen drohen Geldstrafen bis zu 5000 Euro.

Lesetipp: Alex Rühle berichtet auf der Seite 3 der SZ-Montagsausgabe aus Lampedusa. Jetzt am Kiosk oder digital.

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