Italienische Operation "Mare Nostrum":Kriegsschiffe zu Rettungsbooten

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Aktion "Mare Nostrum": Ein italienischer Offizier an Bord eines der Kriegsschiffe, die im Mittelmeer nach Flüchtlingsbooten Ausschau halten. (Foto: AFP)

Schwerter zu Pflugscharen: Diese biblische Verheißung geht im Mittelmeer gerade in Erfüllung. Italiens Marine hat mit Kriegsschiffen bereits 80 000 Flüchtlinge gerettet. Doch die Aktion "Mare Nostrum" steht vor dem Aus - dabei hätte sie den Friedensnobelpreis verdient.

Gastbeitrag von Rupert Neudeck

Die in Bronze gegossene Mahnung des Propheten Micha vor dem New Yorker Hautgebäude der Vereinten Nationen ist nicht so unrealistisch, wie manche Waffenproduzenten meinen. Ein Mann schmiedet dort ein Schwert zur Pflugschar um. Schwerter zu Pflugscharen, das wird immer wieder Wirklichkeit. 1992 zum Beispiel wurden aus T-54-Panzern der ehemaligen Nationalen Volksarmee der DDR Minenräumer, die im südlichen Angola eingesetzt wurden.

Ein winziger Erfolg war das, verglichen mit der gewaltigen Erfüllung der biblischen Verheißung, die in den vergangenen zehn Monaten geschehen ist. Sie ist der italienischen Marine zu verdanken. Im Oktober 2013 erließ die neue italienische Regierung eine Direktive, die bewirkte, dass Kriegsschiffe zu Rettungsbooten wurden. Die Schnellboote und Fregatten, eigentlich gebaut, um Fremde und Feinde von den Küsten Europas fernzuhalten, nahmen nun die Menschen auf, die auf übervollen Kähnen versuchten, nach Europa zu gelangen, deren Boote zu sinken drohten oder schon gesunken waren.

Man kann die Anzahl der Menschen kaum glauben, die in diesen zehn Monaten gerettet wurden. Allein am vergangenen Wochenende, an dem die Italiener Ferragosto feierten, den Wendepunkt des Sommers, rettete ihre Marine mehr als 1900 Flüchtlinge aus Seenot. Seit beginn der Aktion "Mare Nostrum" hat die "Marina militare" fast 80 000 afrikanische Flüchtlinge oder Migranten zu italienischen Häfen geleitet oder aus überfüllten Booten geholt. Damit erreicht der Konversionsprozess einen Höhepunkt. Die unendlich teuren militärischen Rüstungsgüter, technologisch bestens ausgestattet, wurden genutzt, um zu helfen, zu retten - nicht, um abzuschrecken, zu drohen und notfalls zu töten.

Täglich legen im Durchschnitt 270 Afrikaner von den Küsten Libyens, Tunesiens und Ägyptens ab, um den ersehnten Kontinent Europa zu erreichen - seit mehr als 20 Jahren waren nicht mehr so viele Menschen auf der Flucht nach Europa, vor den Kriegen und Bürgerkriegen der Gegenwart, vor Elend und Not. Fast 80 000 von ihnen haben die umgewidmeten Kriegsschiffe gerettet. Man muss sich die Verhältnisse vor Augen führen: Die Cap Anamur I der Deutschen Not-Ärzte rettete von 1979 bis 1982 insgesamt 9507 Vietnamesen aus dem Wasser des Südchinesischen Meeres; die Cap Anamur II von März bis Juli 1986 insgesamt 888 Menschen. Und ein drittes Schiff M/S Rose Schiaffino, gemeinsam ausgerüstet mit den französischen Ärzten der Welt, konnte vom April bis Juni 1987 noch einmal 905 Flüchtlinge retten. 11 300 Menschen innerhalb von acht Jahren - das ist eine stolze Zahl. Die Schiffe der Marine aber haben sie innerhalb von zehn Monaten um das Siebenfache übertroffen.

Der Friedensnobelpreis für "Mare nostrum" wäre ein Zeichen gegen Europas Gleichgültigkeit

Um wie viel stolzer könnten also die italienische Marine, die Küstenwache, die Rettungskräfte sein, darüber hinaus die italienische Regierung und die gesamte EU! Obwohl so viele Flüchtlinge wie nie sich aufs Meer gewagt haben, sind weniger Menschen ertrunken. Doch nun scheint im Gegenteil die Rettungsaktion vor dem Aus zu stehen. Italiens Innenminister Angelo Alfano hat angekündigt, "Mare nostrum" im Oktober zu beenden - neun Millionen Euro kostet es den italienischen Staat im Monat, fünf Schiffe, zwei Hubschrauber und ein Aufklärungsflugzeug im Einsatz zu halten. Das Land sieht sich von den Europäern alleingelassen. Deshalb soll die EU und deren Grenzschutzorganisation Frontex nach dem Willen der Italiener künftig zuständig sein. Frontex ist auf die Abwehr von Flüchtlingen spezialisiert. Das Schlimmste ist zu befürchten.

In unserem christlichen Europa scheint die Bereitschaft zu helfen nicht sehr ausgeprägt zu sein. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat sich beklagt, dass viele Flüchtlinge, die Italien rettet, nicht in ein ordentliches Asylverfahren einsteigen, sondern sich gleich frei in Europa bewegen können. Hätten diese EU-Innenminister getan, was längst überfällig ist, und sich an der Last der Mittelmeeranrainer mit einer beherzt großzügigen Quote beteiligt, wäre das Problem für Italien, Spanien und Malta erträglicher geworden. Stattdessen haben auch die Deutschen kleinlich auf Zuständigkeit und Ordnung gepocht - Hauptsache, es kommen möglichst wenige der aus dem Mittelmeer Geretteten in Deutschland an.

Nein, die größte Rüstungskonversion der vergangenen Jahre darf nicht enden. Die Rettungsaktion im Mittelmeer muss weitergehen. Und wenn wieder über den Friedensnobelpreis entschieden wird, könnte das zuständige Komitee endlich einmal einen richtigen Preisträger finden, besser als Barack Obama und Henry Kissinger, Jassir Arafat, Schimon Peres und Jitzchak Rabin. Es wäre die italienische Marine, ausgezeichnet für eine welthistorische Wende. Das Nobelpreiskomitee würde die Umwandlung von Militärmaterial zum Mittel für den humanitären Einsatz würdigen, von Schwertern zu Pflugscharen. Der Preis würde ein Zeichen setzen für die Bekämpfung jener Weltkrankheit, die Papst Franziskus die "Globalisierung der Gleichgültigkeit" genannt hat.

"Nehmt alle Hoffnung zusammen"

Der Preis für die italienischen Matrosen und Marinesoldaten würde vielleicht auch die Europäische Union dazu bringen, endlich jenen Ländern zu helfen, die am meisten von den Flüchtlingen heimgesucht werden: Griechenland, Italien, Spanien, Malta. Die Auszeichnung wäre eine Besinnungs- und Erkenntnishilfe für Europa: Der Kontinent enthält in sich, in seiner rechtsstaatlichen Existenz und in seinem Wohlstand, eine Verheißung für junge Menschen, die es in ihren gemeingefährlich korrupt geleiteten Ländern nicht mehr aushalten.

Die EU kann natürlich auch schon jetzt die Quoten bestimmen, nach denen Flüchtlinge gerecht in Europa aufgeteilt werden. Die Zeit ist ja glücklicherweise vorbei, zu der ein Ministerpräsident Silvio Berlusconi den Kapitän der Cap Anamur und den Vereinsvorsitzenden Elias Bierdel gleich festnehmen ließ, als sie im Hafen von Empedokles festmachten - die beiden kamen ins Gefängnis, die Geretteten wurden sofort nach Afrika abgeschoben. (Ein Vorgänger von Thomas de Maizière, Otto Schily, fand das damals leider richtig.)

Die Regierung unter Matteo Renzi dagegen könnte nun den Eingangs-Satz von Dantes Göttlicher Komödie umdrehen. Statt "Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr hier eintreten wollt" könnte sie sagen: "Nehmt alle Hoffnung zusammen, die ihr nach Italien kommt!" Denn da ist zum ersten Mal eine Marine, die alles tut, um Menschen in der Katastrophe beizustehen. Ja, das verdiente den Friedensnobelpreis. Jedes Regierungsmitglied kann da Kandidaten benennen. Frau Bundeskanzlerin Merkel, übernehmen Sie?

© SZ vom 20.08.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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