Italienische Mafia:"Als Mafioso würde ich in Deutschland investieren"

Roberto Scarpinato, Italiens wichtigster Mafia-Jäger, über den Siegeszug des organisierten Verbrechens, Drogenlegalisierung - und frühes Aufstehen.

M. Rolff

Roberto Scarpinato, 57, ist leitender Oberstaatsanwalt des Anti-Mafia-Pools in Palermo und eine Schlüsselfigur im Kampf gegen das organisierte Verbrechen Italiens. Der Sohn eines sizilianischen Richters war den bekannten Mafia-Jägern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino 1989 an die Behörde gefolgt und baute sie nach der Ermordung beider Weggefährten 1992 aus. Erstmals richtete Scarpinato eine Abteilung ein, die bei Verbrechen im Zusammenhang mit Politik und Wirtschaft ermittelt. Im Prozess um kriminelle Verstrickungen des früheren Ministerpräsidenten Giulio Andreotti war er Chefankläger. Andreotti wurde wegen Verjährung freigesprochen.

SZ: Signor Scarpinato, in den vergangenen Jahren ist die kalabrische 'Ndrangheta durch Brutalität ins Bewusstsein gerückt. Wie gefährlich sind diese Clans?

Roberto Scarpinato: Die 'Ndrangheta ist eine Gruppe hochkrimineller Unternehmer, deren Struktur wir noch besser verstehen lernen müssen. Ihr ist es gelungen, Bosse in Freimaurerlogen zu platzieren. Da gibt es nun eine geheime Führungsebene namens "La santa", der Kopf. Die 'Ndrangheta wächst also. Doch im Gegensatz zur sizilianischen Mafia hatte sie bisher nur begrenzten Einfluss auf die Politik.

SZ: In Deutschland prägte zuletzt der sechsfache Mafia-Mord von Duisburg das Bild vom organisierten Verbrechen. Es entstand der Eindruck, da haben ein paar Brutalos aus einem kalabrischen Bergnest die Möglichkeit, Terror zu machen und Einfluss auf die deutsche Wirtschaft zu nehmen. Wie kann das möglich sein?

Scarpinato: Dieses Bild wurde leider von den Medien geprägt. Doch der wirklich gefährliche Teil der Mafia ist unsichtbar, vor allem in Ländern, in denen sie investiert. Nehmen Sie die sizilianische Mafia. Hochintelligente, bürgerliche Verbrecher: Ärzte, Mittelständler oder Juristen, die immer erfolgreicher gesellschaftliche Schlüsselpositionen besetzen und ihre Kinder auf die Universität schicken. Oder schauen wir auf die russische Mafia, die in einem kapitalistischen System stark geworden ist, das nach unseren Schätzungen heute zu 70 Prozent vom organisierten Verbrechen betroffen ist und nun große Teile der Weltwirtschaft beeinflusst.

SZ: Zuletzt haben Ermittler immer wieder darauf hingewiesen, dass 'Ndrangheta-Familien die deutsche oder die Schweizer Wirtschaft unterwandern.

Scarpinato: Mafia-Investitionen haben in Deutschland ja eine lange Geschichte, sizilianische Clans haben bereits in den 80er Jahren hier Geld gewaschen. Nach dem Mauerfall begannen sie, vor allem in Immobilien sowie in die Energie- und in die Müllwirtschaft zu investieren. Heute sind sie eher in der Finanzwelt aktiv. Die 'Ndrangheta dagegen hat sich auf die Gastronomie und Hotellerie spezialisiert.

SZ: Wie muss man sich diese wirtschaftliche Betätigung vorstellen?

Scarpinato: Wie eine Tumorzelle, die wächst und streut. Diese kriminelle Zelle erwirbt ein Hotel oder ein Restaurant; dort werden fünf, sechs Menschen platziert, die das Geschäft im Sinne dieser Clans nutzen und ausbauen. Natürlich darf man das nicht kleinreden, wenn die 'Ndrangheta in Bochum eine Pizzeria eröffnet, aber es ist ein Entwicklung, die sich durch Ermittler gut kontrollieren lässt. Im Vergleich zu unseren wirklichen Problemen ist es ein Witz.

SZ: Was ist das eigentliche Problem?

Scarpinato: Wir müssen aufhören, so zu tun, als beschränke sich die Mafia auf wenige Krisenregionen. Es geht um ganze Staaten, die unterwandert werden. Indem die Mafia dort Verbündete an zentralen Stellen platziert. Das kann der Vertreter einer Schweizer Bank, ein Politiker oder ein Mailänder Spitzenanwalt sein. Ein Schulterschluss zwischen traditioneller Mafia und Funktionären. Und derzeit entwickelt sich die organisierte Kriminalität zu komplexen kriminellen Großsystemen, die undurchschaubar werden.

SZ: Das klingt wie eine Verschwörungstheorie. Einige deutsche Ermittler halten das auch für Panikmache.

Scarpinato: Die Probleme zeigen sich aber an vielen Stellen. Etwa in Russland, wo sich das organisierte Verbrechen mit Personen aus Politik, Wirtschaft oder Finanzwelt zusammengetan hat. Das Kapital, das global verschoben wird, ist enorm. Zudem sehen Analysten mit Sorge die Bedeutung des chinesischen und indischen Wirtschaftswachstums für das organisierte Verbrechen. Wenn sich diese Raten aufrecht erhalten lassen, haben die Chinesen in 20 Jahren dieselbe Kaufkraft wie der Westen. Das würde nicht nur bedeuten, dass China das neue Dorado des Drogenkapitalismus wird, sondern auch dass illegale Märkte die legalen an Bedeutung übertroffen haben. Alle alten Mafia-Geschichten sind nur noch Folklore.

SZ: Uns Deutschen erscheint es schon schwer vorstellbar, dass in der Osteria um die Ecke Geld gewaschen wird.

Scarpinato: Ich weiß. Trotzdem geht es eher darum, ob und in welchem Ausmaß sich internationale Syndikate in deutsche Schlüsselindustrien einkaufen werden. Leider wissen wir nicht, welche Aktienpakete etwa die russische Mafia erwirbt oder wer hinter bestimmten multinationalen Investorengruppen steht. Dazu kommt, dass die organisierte Kriminalität auf Deregulierung hinarbeitet und dass Politiker zunehmend einknicken.

SZ: Welche Größenordnung haben die Investitionen der Mafia in Deutschland?

Scarpinato: Das ist kaum seriös zu beziffern. Ich kann zwei andere Zahlen nennen: In Palermo haben wir allein in den letzten zwei Jahren drei Milliarden Euro illegaler Gelder beschlagnahmt. In einer einzigen Stadt! Zudem schätzen wir, dass es uns gelingt, etwa ein Prozent der Umsätze aus dem Drogengeschäft sicherzustellen. Der Rest entgeht uns. Legale und illegale Märkte sind immer enger verflochten, was es nahezu unmöglich macht, illegale Investitionen zu beziffern.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wie viel Mafia-Geld in legales umgewandelt wird und warum Deutschland einen leichten Markt darstellt.

"In Palermo ist der Tod an der Tagesordnung"

SZ: Wieviel Prozent des Umsatzes aus der organisierten Kriminalität lässt sich in legale Märkte einspeisen?

Scarpinato: Unterschiedlich. Bei der sizilianischen Mafia ist es weniger, weil die Tausende Handlanger durchfüttern muss. Andere Organisationen sind bei der Kapitalisierung von schmutzigem Geld schneller. Der Schnitt liegt meiner Erfahrung nach bei 70 Prozent. Von jedem DrogenEuro wandern 70 Cent in legale Märkte.

SZ: Ist Deutschland ein leichter Markt?

Scarpinato: Ja. Wäre ich Mafioso, würde ich in Deutschland investieren. Auch, weil ich hier nicht abgehört werden kann.

SZ: In Italien reicht der Verdacht auf Mafia-Zugehörigkeit aus, um abgehört zu werden. Das wäre in Deutschland aus gutem Grund kaum durchsetzbar.

Scarpinato: Ohne Lauschangriff hätten wir in Italien keine Chance. Wir müssen uns über eine Frage klar werden: Entweder wir betrachten das organisierte Verbrechen als extreme Gefahr und schaffen international die notwendigen Mittel dagegen, oder wir stehen vor einem Wettlauf, den wir niemals gewinnen können.

SZ: Wie stellen Sie sich denn einen wirksamen Kampf vor?

Scarpinato: Solange Europa nicht ein den USA vergleichbarer föderaler Organismus ist, werden wir da keine Fortschritte machen. Man sieht das an der Müllwirtschaft. Die internationalen Regeln dazu sind eine Katastrophe. Sie ermöglichen es der Mafia erst, dort Geld zu waschen. Oder nehmen Sie die isolierten Steuergesetze Großbritanniens, die schmutziges Kapital aus der ganzen Welt nach London ziehen. Oder Italien! Es kann doch nicht sein, dass ich als Staatsanwalt drei Milliarden Euro beschlagnahmen lasse und dann kommt der italienische Staat mit einer Amnestie für Steuerflüchtlinge. Wir brauchen europaweit abgestimmte Gesetze, effektive europäische Behörden und Einsatzkräfte - eine europäische Polizei.

SZ: Was lässt Sie angesichts dieser Herkulesaufgaben eigentlich jeden Morgen aufstehen und weitermachen?

Scarpinato: Ich glaube daran, dass man dieses Problem ins Bewusstsein der Menschen rücken muss. Und es gibt ja durchaus Lösungen. Möglicherweise werden wir uns angesichts der Wachstumsraten in China irgendwann dazu durchringen müssen, den Drogenmarkt zu legalisieren. Den Bankensektor stark zu kontrollieren. Für solche Veränderungen müssen wir massive kulturelle Vorbehalte überwinden. Meine Arbeit gilt diesem Bewusstsein. Ich weise immer gern auf dieses italienische Sprichwort hin: Wenn die Fratze, die Du im Spiegel siehst, hässlich ist, dann liegt es nicht am Spiegel.

SZ: Wie wollen Sie international Gesetze durchbringen, wenn Italien es noch nicht einmal schafft, die Aushöhlung der eigenen Demokratie zu verhindern?

Scarpinato: Das ist in der Tat ein Problem. Eine Medienmacht in den Händen von wenigen. Ein Wahlrecht, das Parteien und Oligarchen zu viel Macht verleiht und das Parlament aushöhlt. In öffentlichen Gremien sitzen Vertreter, die wegen Korruption und Mafia-Verstrickungen rechtskräftig verurteilt sind. Das ist eine enorme Belastung für die politische Moral. Allerdings befinden sich die demokratischen Systeme weltweit in der Krise.

SZ: Inwiefern?

Scarpinato: Die Staaten können die Wirtschaft nicht mehr steuern. Globalisierung und Turbokapitalismus machen das dritte Jahrtausend zum idealen Zeitalter für organisiertes Verbrechen. Die illegalen Märkte funktionieren genau wie die legalen: Die Großen verdrängen die Kleinen. Ein Beispiel ist die Prostitution, früher ein typisches Geschäft für Kleinkriminelle. Heute ist das ein von der Mafia betriebenes Großunternehmen. Das Gleiche gilt für den Handel mit Drogen, Waffen und Menschen. Die Mafia hat den Markt bereinigt und teilt das Geschäft international auf. Kartelle vom Balkan, aus Italien, Russland, China oder Kolumbien.

SZ: Sie sind seit 20 Jahren einer der bestbewachten Männer Italiens. War es das eigentlich wert?

Scarpinato: Ich habe viele sehr enge Freunde verloren. Giovanni Falcone...

SZ: ... der 1992 zusammen mit ein paar hundert Metern Autobahn von der Mafia in die Luft gesprengt wurde...

Scarpinato: ... Paolo Borsellino, aber auch einige weniger bekannte Beamte. Und die einzige Weise, ihrem Tod eine Art Sinn zu verleihen, war für mich weiterzumachen. Ich will nicht sagen, dass ich mich an diesen Kampf gewöhnt habe, aber ich habe mich arrangiert. Wenn man jung ist, macht man sich das noch nicht so bewusst. Man denkt, okay, das mache ich jetzt mal für ein paar Jahre, ohne sich darüber im klaren zu sein, wo man sich hineinbegibt. Dass es keinen Rückweg gibt.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Ob man sich an den Tod gewöhnen kann und welche Zukunftspläne Scarpinato hat.

"Genau genommen bin ich allein"

SZ: Und wenn Sie gewusst hätten, worauf Sie sich einlassen?

Scarpinato: Ich hätte es wieder so gemacht. Dieses Leben hat mich gelehrt, wie alles funktioniert. Wie die Menschen sind. Wie Macht entsteht. Vor die Wahl gestellt, würde ich lieber sehenden Auges in den Tod gehen als in Unwissenheit zu leben.

SZ: Sie sagten einmal, man müsse sich an den Tod gewöhnen. Sagt sich so leicht.

Scarpinato: Die Menschen haben vergessen, dass sie sterblich sind. Meine Art zu leben hat mich dagegen zur Auseinandersetzung mit dem Tod gezwungen. Das war wichtig, weil es zu Ernsthaftigkeit verhilft. Dazu, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Den Tag zu genießen. Auch Palermo hat mir geholfen. Wissen Sie, was das Paradoxe an Palermo ist?

SZ: Nein, was denn?

Scarpinato: Dort ist der Tod an der Tagesordnung. Seltsamerweise ist das ethische Bewusstsein zugleich besonders ausgeprägt. Alle Trennlinien verlaufen sehr gerade. Es gibt nur Schwarz oder Weiß. Gut oder Böse. Man muss sich also entscheiden. Und diese Entscheidung ist verdammt schwer. Aber sie hat eine ethische Dimension. Wo gibt es das sonst noch?

SZ: Bedeutet das auch, dass die Angst verschwindet?

Scarpinato: Normalerweise leben wir von Zukunftsplänen. Nächsten Sommer fahren wir ans Meer und so weiter. Die Fähigkeit dazu habe ich komplett verloren. Ich kann noch nicht einmal über das Ende dieses Monats nachdenken. Es ist, als hätte ich ein schwarzes Nichts vor mir.

SZ: Aber wie gehen die Menschen damit um, die Ihnen nahe stehen?

Scarpinato: Mein Sohn ist erwachsen, er musste in eine andere Stadt ziehen, weil die Mafia gedroht hatte, ihn umzubringen. Genau genommen bin ich allein.

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