Italien:Zurück auf der Geheimroute

Seit einiger Zeit kommen wieder zunehmend Migranten aus Tunesien übers Mittelmeer. Die Route galt eigentlich längst als unwichtig. Aber nun sieht es so aus, als hätten die tunesischen Schleuser italienische Komplizen.

Von Oliver Meiler, Rom

Ein Bootsunglück rückt eine alte Fluchtroute über das Mittelmeer mit neuer Dringlichkeit ins Zentrum der italienischen Aufmerksamkeit. Zugetragen hat es sich vor den Kerkennah-Inseln, einem tunesischen Archipel. In der Nacht auf Montag kollidierten dort ein Fischerboot mit ungefähr 70 Passagieren, das in Sfax abgelegt hatte, und ein Schiff der tunesischen Marine. Wie das passieren konnte, ist noch unklar. Wahrscheinlich lief eine Kontrolle schief. Das Boot ging sofort unter. 38 Menschen konnten gerettet werden, acht wurden tot geborgen, zwanzig gelten als vermisst. Die Reise hätte sie nach Lampedusa oder Sizilien bringen sollen.

Seit einigen Wochen häufen sich Überfahrten auf dieser Strecke, von der man dachte, sie sei nachhaltig stillgelegt worden. In den vergangenen Jahren flüchteten fast keine Migranten mehr von Tunesien nach Italien. Es wäre verlockend, die Reaktivierung der Route in einen direkten Zusammenhang mit der jüngsten Entwicklung in Libyen zu bringen. Von dort kommen plötzlich viel weniger Flüchtlinge. Warum, ist noch immer schleierhaft. Die libysche Küstenwache trägt dazu bei, die neuerdings viele Migranten aus Westafrika an der Fahrt nach Italien hindert. Ihre Beamten wurden von italienischen Kollegen ausgebildet. Italien lieferte auch Schnellboote und Apparaturen an Libyen. Zudem sollen berüchtigte Milizen im Westen von Tripolis überzeugt worden sein, ihr Schleusergeschäft aufzugeben und die Küste zu sichern. Warum sie einwilligten, ist weiter mysteriös. Offen auch, ob sie sich dauerhaft daran halten.

Tatsache aber ist, dass im Juli, August und September die Überfahrten aus Libyen um mehr als die Hälfte zurückgingen im Vergleich zu Sommer 2016. Ein kleiner Teil der Migranten, ist man in Italien überzeugt, versucht sein Glück auf der Alternativroute. Sie reisen dafür von Libyen nach Zarzis an Tunesiens Südküste, um dort nach Italien überzusetzen. Der Großteil der Flüchtlinge, die in Tunesien ablegen, sind aber junge Tunesier. Auch auf dem Unglücksboot aus Sfax reisten nur Tunesier.

Am teuersten sind die kürzesten Fahrten in sicheren Booten für höchstens 20 Passagiere: Von Cap Bon, der nördlichsten Landspitze, an die Küste zwischen dem sizilianischen Agrigent und Porto Empedocle - 2500 Euro. Italienische Medien nennen sie "Barche fantasma", Geisterboote, weil sie allen Kontrollen entgehen. Kaum erreichen die Flüchtlinge Sizilien, meist nachts, ziehen sie frische Kleider über, die an den Stränden bereitliegen, und mischen sich unter die Bevölkerung. Offenbar arbeiten kleine tunesische Schlepperbanden mit italienischen Komplizen zusammen.

In Italien ist man verärgert, dass Tunesien nicht mehr unternimmt, um die "geheime Route" besser zu kontrollieren. Auch die tunesische Küstenwache haben die Italiener ausgebildet und ausgerüstet. Die Länder haben ein Abkommen unterzeichnet, darin steht, dass die Italiener pro Woche 60 Tunesier zurückbringen können, die illegal eingereist sind. Aber erst müssen sie sie finden.

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