Italien:Wahlrechtsreform gekippt

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Italiens Oberstes Gericht hält wichtige Teile des neuen Gesetzes für verfassungswidrig. Nun streiten die Parteien offen darüber, wie schnell die Bürger wieder an die Urnen gehen sollen.

Von Oliver Meiler, Rom

Wenn es noch Italiener gegeben haben sollte, die nicht wussten, wie der Palast aussieht, in dem ihre Verfassungsrichter sitzen: Nun wissen sie es. Seit Tagen stehen sich Fernsehreporter die Beine in den Bauch vor dem hübschen Palazzo an der Piazza del Quirinale, hoch über Rom. In den Direktschaltungen dient er als Kulisse, wenn vom wichtigsten Entscheid seit Jahren erzählt wird, den die Herrschaften des Obersten Gerichts fällen mussten. Nun ist das Urteil da, und es birgt in sich beträchtliche Konsequenzen für die italienische Politik, kurz- und mittelfristig.

Das Verfassungsgericht hat wichtige Teile des neuen Wahlgesetzes für die Bestellung der Abgeordnetenkammer, des sogenannten Italicum, für verfassungswidrig erklärt. Das vom früheren Premier Matteo Renzi gewollte Italicum war erst im vergangenen Sommer in Kraft getreten, kam also noch nie zum Einsatz, löste aber dennoch etliche Einwände aus.

Zwei davon halten die Verfassungsrichter für stichhaltig: Als verfassungswidrig erachten sie erstens den Passus, wonach die beiden Parteien, die in der ersten Wahlrunde am meisten Stimmen erhalten haben, in einer Stichwahl gegeneinander antreten und dass der dann siegreichen Formation eine Sitzprämie zugesprochen würde. Strittig war dieser Punkt, weil damit eine Partei, die zum Beispiel real 25 Prozent der Stimmen erreicht hätte, am Ende 54 Prozent der Parlamentsmandate für sich hätte verbuchen können. Nun müsste eine Partei schon in der ersten Runde mindestens 40 Prozent der Stimmen gewinnen, um den Bonus zu erhalten - ohne Allianzen ist ein solches Szenario unwahrscheinlich. Zweitens soll es den Spitzenleuten auf den Wahllisten nicht erlaubt sein, gleichzeitig in zehn Walbezirken anzutreten und dann auszuwählen, welches von gegebenenfalls mehreren Mandaten sie annehmen möchten. Das Verfassungsgericht ließ ausrichten, dass das Gesetz nach der Korrektur automatisch anwendbar sei. Theoretisch wenigstens.

Die italienische Politik stand dermaßen im Bann dieses Entscheids, dass sie sich den Vorwurf gefallen lassen musste, nur auf den Richterspruch zu warten, statt selber zu handeln. Das hätte sie nämlich auch tun können. Seit dem Nein zu Renzis Verfassungsreferendum im Dezember war klar, dass der Wahlmodus geändert werden muss. Das Italicum war allein für die größere Kammer und für den Fall gemacht, dass Renzi seine Parlamentsreform durchbringt und beide Häuser nicht mehr dieselben Kompetenzen haben. Nun aber bleibt es beim alten, totalen Zweikammersystem, in dem Senat und Abgeordnetenkammer gleichgestellt sind. Sitzen in beiden Kammern aber unterschiedliche Mehrheiten, kann eine die andere blockieren - und das Land mit. Die beiden Wahlgesetze, so viel ist klar, müssen einigermaßen miteinander harmonieren, damit sie sich gegenseitig nicht im Weg stehen.

Tun sie das nun - oder muss das Parlament noch mal Hand anlegen? Die Meinungen der Parteien und großen politischen Figuren gehen weit auseinander. Jeder hat seine eigene Agenda. Matteo Renzi, der Generalsekretär des Partito Democratico, würde gern bald wieder an die Urnen gehen. Die Hast überrascht: Die Niederlage beim Referendum war ja schallend, und die 60 Prozent "No" galten in erster Linie ihm und seiner Politik. Doch Renzi glaubt umgekehrt, dass ein schöner Teil der 40 Prozent "Sì" ihm und seiner Partei gehörten. Seine Popularitätswerte sind gestiegen. Wahrscheinlich schätzen die Italiener, dass Renzi tatsächlich zurückgetreten ist, wie er das verheißen hatte. Doch fürchtet er, die Gunst könnte schnell schwinden, zumal er nun im Schatten seines Nachfolgers Paolo Gentiloni steht. Man könnte ihn vergessen. Es gibt aber auch Stimmen in seiner Entourage, die ihm raten, sich rar zu machen, sich ein neues Image zu geben und in neuer Frische zurückzukehren.

Italiens Wahllokale werden wohl auch in Zukunft von Polizisten in schicken Uniformen bewacht werden. Nach welchen Regeln aber drinnen abgestimmt wird, darüber musste zunächst das Verfassungsgericht entscheiden. (Foto: Tony Gentile/Reuters)

Im rechten Lager war Berlusconi bisher der Seniorpartner - nun fordert ihn die Lega Nord heraus

Auch Beppe Grillo, der Gründer und Vordenker der Protestbewegung Cinque Stelle, dringt auf Neuwahlen. Er ist der Gewinner des Referendums, der Orchestermeister des Zorns. Würde heute gewählt, lägen die Cinque Stelle ungefähr gleich auf mit dem Partito Democratico bei 30 Prozent. Erstaunlich daran ist, dass selbst die Skandale in Rom, wo Grillos Partei die Bürgermeisterin stellt, und die Verwirrung um die Fraktionszugehörigkeit im Europaparlament die Wahlchancen nicht geschmälert haben.

Im rechten Lager dagegen, dem dritten Pol im italienischen Politgefüge, ist man sich uneins. Die rechtsextreme Lega Nord und ihr Chef Matteo Salvini wähnen sich auf einer Welle: der Brexit, die Wahl Donald Trumps, das Nein zur italienischen Verfassungsreform - alles lief, wie sie sich das erhofft hatten. Salvini würde gerne bald wählen, egal, mit welchem Wahlgesetz. Doch die Lega allein kommt nur auf zwölf Prozent, sie braucht Alliierte. Zum rechten Pol gehört traditionellerweise die bürgerliche Forza Italia von Silvio Berlusconi, sie war bisher immer der Seniorpartner im Bündnis. Nun sind die beiden Parteien aber ungefähr gleich groß und Salvini möchte Chef sein. Er fordert Berlusconi auf, sich mit ihm in Vorwahlen zu messen.

Doch der mag nicht. Berlusconi kann Salvini nicht leiden. Und er spielt auf Zeit: Berlusconi ist zwar 80 Jahre alt, hat aber noch immer keinen Nachfolger bestimmt. Außerdem ist er seit seiner Verurteilung wegen Steuerbetrugs nicht wählbar. Nun hofft er, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Verbot aufhebt. Vielleicht kommt das Urteil dieses Jahr, vielleicht aber auch erst nächstes. Von allen Parteistrategen hat es ausgerechnet der älteste am wenigsten eilig.

© SZ vom 26.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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