Süddeutsche Zeitung

Italien:Unbeliebte Lebensretter

  • Allein im vergangenen Jahr starben auf der Straße von Sizilien 4600 Migranten.
  • NGOs stehen dafür in der Kritik. Es heißt, sie seien ein "Pull-Faktor" geworden, sie zögen die Flüchtlinge aktiv an, weil sie nun näher an der libyschen Küste operierten.
  • Frontex wirft einigen Organisationen sogar vor, dass sie sich mit libyschen Schleusern absprechen würden.

Von Oliver Meiler, Rom

Diesmal zerbrach die Hoffnung schon nach sechs Seemeilen. Wieder ist ein Boot mit afrikanischen Migranten gekentert, kaum hatte es in Libyen abgelegt. Die See war rau, das kleine Boot überfüllt. Die Geretteten wurden nach Libyen zurückgebracht, in einen zerrissenen Staat ohne feste Zentralmacht. Für die Männer ist es ein Unglück im Glück. Hätten sie es bis in die internationalen Gewässer geschafft, einige Seemeilen weiter, dann wären sie nach Italien gebracht worden. Nun sind sie wieder dort, von wo sie unbedingt wegwollten - egal, wie.

Die libyschen Flüchtlingszentren, so berichtet es zum Beispiel Ärzte ohne Grenzen, werden von brutalen Milizen verwaltet. Da wird gefoltert, um mehr Geld aus den Flüchtlingen und deren Angehörigen zu pressen. Da werden Menschen gegängelt, erniedrigt, vergewaltigt. Wer eine Chance hat, sich aus einem dieser Lager zu befreien und auf ein Boot zu steigen, der tut das. Auch wenn es lebensgefährlich ist.

In der Sprache der Migrationsexperten nennt man das "Push-Faktor", will heißen: Der Drang der Flüchtlinge, diese schlimmen Orte zu verlassen, ist größer als die Angst vor der Todesroute durch das Mittelmeer. Manche werden auf die Boote gezwungen. Allein im vergangenen Jahr starben auf der Straße von Sizilien 4600 Migranten. Die Todesfälle wären noch viel zahlreicher gewesen, wenn neben den Schiffen der italienischen Marine und der Küstenwache sowie jenen der europäischen Missionen nicht auch noch ein Dutzend Boote von Nichtregierungsorganisationen gekreuzt hätten. Mittlerweile wird mehr als ein Drittel aller Rettungsoperationen von NGOs durchgeführt.

Frontex wirft den NGOs Absprachen mit den Schleusern vor

Sie stehen dafür in der Kritik. Es heißt, sie seien ein "Pull-Faktor" geworden, sie zögen die Flüchtlinge aktiv an, weil sie seit einem halben Jahr viel näher an der libyschen Küste operierten als zuvor. Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, wirft einigen Organisationen sogar vor, dass sie sich mit libyschen Schleusern absprechen würden, ihnen ihre Positionen übermittelten, mit Scheinwerfer auf sich aufmerksam machten, Telefonnummern austauschten.

Beweise für diese Vorwürfe gibt es bisher nicht. Als Quelle nennt Frontex Aussagen einzelner Flüchtlinge, deren Identität sie allerdings anonym hält. Die privaten Hilfsorganisationen - fünf deutsche, eine maltesische und eine spanische - streiten vehement ab, mit Schleusern zu kooperieren. Sie sehen sich als Opfer einer Verleumdungskampagne, eines politischen Manövers in Zeiten des wachsenden Populismus. So wolle man ihre Spendeneinnahmen mindern, damit sie ihre Rettungsaktionen nicht mehr finanzieren könnten.

Es ist ein wüster Streit, der an der Schwelle zu Europa neu aufgeflammt ist. Dazu trägt auch Carmelo Zuccaro bei, der Staatsanwalt von Catania. Er führt eine Ermittlung in der Angelegenheit, keine strafrechtliche. Anlass sind die Verdächtigungen von Frontex. Kürzlich trat Zuccaro im italienischen Parlament auf, danach schrieben Zeitungen, die NGOs würden die libyschen Schlepper "begünstigen" - mit einer Art Taxi-Dienst nach Italien. Auf Anfrage sagt Zuccaro, er wolle herausfinden, warum plötzlich dreizehn Schiffe von NGOs in Sizilien unterwegs seien, waren es vor Kurzem doch erst fünf. Auch wolle er wissen, warum manche von ihnen bis in libysche Gewässer vordringen würden und woher das viele Geld käme. "11 000 Euro am Tag sind da mindestens nötig", sagt er, "bei der maltesischen Organisation MOAS, die auch noch zwei Drohnen einsetzt, sind es 400 000 Euro im Monat."

Solange keine Anzeige vorliege, gebe es kein Strafverfahren

In den Fragen Zuccaros schwingt der Verdacht mit, die NGOs würden ihre Kosten nicht nur mit Privatspenden decken, sondern womöglich gar mit Geld aus dem Schleuserbusiness. "Es gibt keine Beweise für diese These", sagt Zuccaro. Doch er halte es für "sehr unwahrscheinlich", dass diese kleinen und teilweise jungen NGOs sich ausschließlich mit privaten Spenden finanzieren würden. Um die Geschichte genau zu prüfen, brauche er die Mittel, die nur bei einem Strafverfahren möglich seien: Telefonabhörungen, Kontrolle von Geldtransfers. Doch solange keine Anzeige vorliege, gebe es kein Strafverfahren.

Eine dieser Organisationen ist die spanische "Proactiva Open Arms", die der katalanische Rettungsunternehmer Oscar Camps im November 2015 gegründet hat. Zu ihren Gönnern gehören Fußballtrainer Pep Guardiola und Schauspieler Richard Gere. Zunächst fuhr "Open Arms" Rettungseinsätze vor Lesbos. Im vergangenen Sommer verschob Camps, der früher vor den Stränden Barcelonas arbeitete, seine Mission auf die Route im zentralen Mittelmeer. "Man will uns da nicht", sagte Camps diese Woche in Rom, nachdem ihn der italienische Senat zu einer Anhörung zitiert hatte. Alles werde unternommen, um sie zu diskreditieren, obwohl er alle Gesetze respektiere. "Als Nächstes", sagt er, "da bin ich mir fast sicher, werden sie falsche Zeugenaussagen fabrizieren."

Camps ist ein Seemann, wie man ihn sich vorstellt: mit Bart, sonnengegerbter Haut und intensiven Augen. Er ist misstrauisch geworden, bitter gar. "Warum hinterfragt man nicht die Deals, die Europa mit den Mächtigen in der Türkei und Libyen schließt?" Sein Ziel sei es, dass seine Organisation obsolet werde. 18 012 Menschen hat "Open Arms" bereits gerettet. 2016, sagt Camps, hätten sie 2,2 Millionen Euro eingenommen mit privaten Zuwendungen und Prämien. Alles fließe in die Rettung. "Doch natürlich gehen die Spenden jetzt zurück", sagt Camps. Die Vorwürfe zehren am Vertrauen, auch ohne Beweise.

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SZ vom 15.04.2017/fie
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