Süddeutsche Zeitung

Frankreich:Auslieferung von Ex-Terroristen nach Italien abgelehnt

Nach jahrzehntelangem Streit mit Frankreich empört sich Italien über ein Pariser Gericht, das die Auslieferung zehn ehemaliger italienischer Linksterroristen verhindert. Und das ausgerechnet am Tag des Bataclan-Urteils.

Von Oliver Meiler, Rom

"Ohrfeige für Italien", titeln zwei große italienische Zeitungen, und ihre Meinung findet ein breites Echo. Die Italiener sind empört, weil ein Pariser Berufungsgericht entschieden hat, zehn frühere Mitglieder italienischer Terrororganisationen nicht in ihre Heimat auszuliefern, wo sie ihre Haftstrafen absitzen sollten. Dabei geht es für Italien um eine dramatische, ja traumatische Angelegenheit.

"In diesem Entscheid", kommentiert die linke La Repubblica, "schwingt etwas Verstörendes, etwas Erniedrigendes mit." Da würden in Frankreich Personen geschützt, die sich in den bleiernen Jahren des Terrors in Italien blutiger Vergehen schuldig gemacht hätten. "Und das ausgerechnet an dem Tag, an dem mit extremer Strenge und dem gesamten Rüstzeug des Strafrechts gegen den Terrorismus Salah Abdeslam und seine 'Vereinigung von terroristischen Verbrechern' für das islamistische Blutbad im November 2015 in Paris gerichtet wurde."

Einerseits lässt sich der Anschlag auf die Konzertbesucher im Bataclan und auf die Menschen in den Pariser Cafés nur schwer mit der Terrorphase der Siebziger- und Achtzigerjahre in Italien vergleichen - auch der juristische Umgang damit nicht. Andererseits ist die Versuchung in diesem Fall besonders groß.

Als die französische Polizei vor etwas mehr als einem Jahr in der konzertierten Operation "Rote Schatten" zehn Italiener festnahm - acht Männer und zwei Frauen, alle zwischen 61 und 78 Jahren alt, die schon seit vielen Jahrzehnten in Frankreich lebten -, hoffte man in Italien, dank des entschlossenen Handelns von Emmanuel Macron fände endlich eine alte Ungerechtigkeit ihr Ende. Als solche hatten jedenfalls die Italiener die "Doctrine Mitterrand" empfunden, benannt nach dem früheren sozialistischen Präsidenten Frankreichs, François Mitterrand. Der bot damals Mitgliedern linksextremistischer Gruppen politisches Asyl an, sofern sie kein Blut an den Händen trugen, den Waffen entsagt hatten und nicht schon rechtmäßig verurteilt worden waren. Das waren die Kriterien - in der Theorie.

Das Narrativ der Franzosen war schon immer falsch

Unter dem Deckmantel dieser Doktrin entkamen Dutzende Terroristen der italienischen Justiz. Es waren auch solche aus dem Dunstkreis der Roten Brigaden dabei, mit Blut an den Händen. Sie bauten sich in Frankreich ein neues Leben auf, höchstens halb klandestin, arbeiteten als Kellner, Hausmeister, Klempner. Einer von ihnen, Cesare Battisti, einst Anführer von den "Proletari armati per il comunismo" und verantwortlich für mehrere Morde, wurde Krimiautor und zum Liebling der Pariser Intellektuellenszene, die ihn und andere für politische Verfolgte hielt. Bis in die französische Staatsspitze hinauf war man der Ansicht, in Italien herrsche ein faschistisches Regime, das sich für den roten Terrorismus rächen würde. Das war schon in jener Zeit ein falsches Narrativ und ist es immer geblieben.

Battisti war zum Symbol der schrägen französischen Kulanz geworden und genoss seine Fama. Er lebte sie mit arroganter Selbstgefälligkeit aus, bis er vor einigen Jahren in Bolivien verhaftet und nach Italien gebracht wurde. Nun sitzt er in Haft. Die Operation "Rote Schatten" galt also als Zäsur, als Paradigmawechsel. "Hätten wir Franzosen akzeptiert", fragte Frankreichs Justizminister Éric Dupond-Moretti rhetorisch, "wenn sich ein Terrorist aus dem Bataclan nach Italien abgesetzt und dort vierzig Jahre lang unbehelligt gelebt hätte?" In dieser Frage war alles drin, auch das Eingeständnis der politischen Bigotterie Frankreichs.

Zu den zehn Personen, die nun doch nicht nach Italien ausgeliefert werden sollen, gehört Giorgio Pietrostefani. Sein Name ist von allen der prominenteste. In den Terrorjahren war Pietrostefani einer der führenden Köpfe von "Lotta Continua" gewesen. Die italienische Justiz verurteilte ihn zu einer Haftstrafe von 22 Jahren, weil sie ihm vorwirft, den Mord an dem jungen Mailänder Polizeikommissar Luigi Calabresi beauftragt zu haben, im Mai 1972. Nun ist Pietrostefani 78 Jahre alt und schwer krank, den Vorwurf hat er immer abgestritten. Nach seiner Verhaftung vor einem Jahr wurde er sofort wieder freigelassen und unter Aufsicht gestellt, wie die anderen auch.

Mario Calabresi, Sohn des getöteten Kommissars und berühmter Journalist, sagte nun nach der Pariser Gerichtsentscheidung, er habe schon lange vergeben, um in Frieden sein Leben leben zu können: "Ich weiß auch nicht, ob es viel Sinn ergibt, wenn Pietrostefani ins Gefängnis muss - er ist alt und krank."

Der Fall könnte noch in die Berufung gehen

So sieht es allerdings nur er. Andere Opferangehörige aus der Zeit des Terrors, die von den italienischen Medien interviewt wurden, fühlen sich verspottet, der Schmerz vom Verlust werde nun neu angefacht. So schließen sich die Wunden wohl nie. Die italienische Politik zeigt seltene Einigkeit, von rechts bis links: Alle Parteien halten das Urteil - je nach Hang für Kraftworte - für "schändlich" oder "bedauerlich". Italiens Justizministerin Marta Cartabia gab sich zumindest "überrascht", erinnerte dann aber an die markanten Worte des Amtskollegen aus Paris und sagte: "Ich respektiere den Entscheid der französischen Justiz, die völlig unabhängig handelt. Ich warte jetzt auf die Urteilsbegründung."

Offiziell ist die noch nicht. Doch aus Justizkreisen ist zu hören, die Richter seien zu dem Schluss gelangt, dass die Prozesse in Italien, in Abwesenheit der zehn Beschuldigten, Prinzipien der europäischen Konvention für Menschenrechte verletzt hätten. Sie übernehmen damit die Linie der Verteidigung. Bringt der Procureur général, wie im französischen Justizsystem der höchste Vertreter der Staatsanwaltschaft heißt, das Verfahren nun nicht weiter an die nächst höhere Instanz, den Kassationshof, dann können die zehn Italiener für immer in Frankreich bleiben.

Fünf Tage Zeit hat der Generalprokurator für seine Entscheidung, bis Anfang nächster Woche. Und Italien kann nur warten und zusehen.

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