Süddeutsche Zeitung

Italien:Sie wollen nach Frankreich, egal wie

Dass Flüchtlinge aus dem Auffangzentrum im italienischen Ventimiglia die Grenzen nach Frankreich zu überqueren suchen, ist Dauerzustand. Doch jetzt eskaliert die Lage.

Von Oliver Meiler, Rom

Rennend, schwimmend, strauchelnd. Am obersten Stück der Riviera, im äußersten Nordwesten Italiens, versuchen Flüchtlinge wieder zu Dutzenden, die Grenze nach Frankreich zu überwinden - von Ventimiglia nach Menton. Da wollen sie alle hin. Vor einigen Tagen waren es ungefähr 140 auf einmal, vor allem Afrikaner. Ohne Ankündigung verließen sie das Auffangzentrum des Roten Kreuzes in Ventimiglia, wo viele von ihnen monatelang untergebracht waren. Sie durchbrachen den Kordon der Polizei, die sie mit Tränengas aufhalten wollte, und marschierten zur Grenze. Manche sprangen dann von der Felsenküste ins Wasser und schwammen hinüber, in französisches Gewässer. Andere rannten die Bahngeleise entlang nordwärts, was ja unweigerlich ans Ziel führen musste, aber auch besonders gefährlich ist: Ein Flüchtling wurde von einem Zug gestreift und verletzt. So groß ist der Drang gen Norden.

Doch wieder war alle Furchtlosigkeit umsonst. Schon am Abend der Flucht waren sämtliche 140 Flüchtlinge wieder zurück in Italien. Es gab Ausschreitungen, wüste Zusammenstöße der italienischen Polizei mit den so genannten No Borders, den Mitgliedern eines europäischen Netzwerks von Aktivisten und Anarchisten, die sich für die grenzenlose Bewegungsfreiheit der Migranten engagieren und dabei nicht selten vermummt und prügelnd auftreten. Ein 50-jähriger Polizist starb während der Tumulte an einem Herzinfarkt, ohne äußere Gewalteinwirkung. Die Behörden nehmen an, dass die "No Borders", für die Ventimiglia auch ein politisches Labor ist, die Flüchtlinge dazu animiert hatten, in großer Zahl das Lager zu verlassen und den Sprung nach Frankreich zu wagen.

Zeiten großer Konfusion

Die Franzosen zögern nie lange. Mit ihrer Gendarmerie riegeln sie die Grenze rigide ab, sie statten die Einwanderer mit Ausweisungsbescheiden aus und fahren sie mit Autobussen umgehend zurück nach Italien. Genau geprüft werden die Fälle nur selten. Das mag nicht einwandfrei sein, wenn das Schengener und Dubliner Abkommen als Gradmesser herangezogen würden. Doch in diesen Zeiten der großen Konfusion sind ohnehin gerade viele Gewissheiten in der Schwebe.

Die italienischen Medien nennen Ventimiglia schon "la piccola Calais", das kleine Calais. Betrachtet man die Zahlen, ist der Vergleich mit den Lagern am Ärmelkanal natürlich eine Übertreibung: In Calais warteten zuweilen mehrere Tausend Migranten in Zelten auf den richtigen Moment für eine Überfahrt nach England; in Ventimiglia sind es einige Hundert. In der Symbolik aber sind sich die beiden Orte ähnlich, Fanale eines trauriges Spektakels.

Auch Ventimiglia ist ein Ventil. Der Küstenstreifen ist eng, dahinter erheben sich steil die Ausläufer der Alpen. Natürlich gibt es auch Wege nach Frankreich hintenherum, über kleine Landstraßen und Wanderpfade, und auch dafür gibt es kundige Schleuser, die für Geld den Pfad weisen. Doch der Druck staut sich unten an der Küste, sichtbar für alle. Man hat die Situation schon mit einem Kochtopf verglichen: Der Druck steigt, je mehr die Schweizer bei Chiasso und die Österreicher am Brenner die Grenzen schließen.

Im vergangenen Sommer halfen die "No Borders" den gestrandeten Flüchtlingen von Ventimiglia dabei, ein "Protestcamp" aufzubauen an der Grenze - unter den Kiefern der "Pinetina", bei der berühmten Felsenküste der "Balzi Rossi". Auf dem illegal besetzten Gebiet gab es alles, was es brauchte: Zelte, mobile Toiletten, Feldküchen. Finanziert wurde die Aktion durch Sammelaktionen im Netz. Doch mit der Zeit wuchs der Unmut in der Bevölkerung. Das Lager wurde geschlossen, die Flüchtlinge in ein neues Zentrum gebracht. Wenn es zu viele wurden, verteilte man sie auf andere Lager im Süden, von wo aber viele von ihnen bald wieder nach Ventimiglia zurückkehrten. Irgendwie. Unlängst bot der Bischof der Stadt an, mehr als Hundert Migranten, die unter einer Brücke campierten, in Pfarreien und Klöstern unterzubringen.

Eine schnelle Lösung scheint es nicht zu geben. Und so schiebt man sich nun gegenseitig die Schuld zu. Giovanni Toti etwa, der rechtsbürgerliche Gouverneur der Region Ligurien, wirft der linken Regierung in Rom vor, sie schaue nur untätig zu: "In Ventimiglia braucht es die harte Hand", sagt Toti, "es hat sich ausgeheuchelt - die Regierung soll mit Macht eingreifen."

Manche Staatsvertreter tun das schon. Ein Polizist in Zivil, der am Wochenende Flüchtlinge auf dem Weg nach Menton abfing, wurde verdeckt gefilmt, wie er die Männer als "Idioten", "Bastarde" und "Stück Scheiße" beschimpfte. Einen uniformierten Kollegen sieht man im Video, wie er einen der Flüchtlinge anbrüllt und mit dem Schlagstock droht: "Komm her, hier befehle ich, das ist mein Land." Die Plattform "Fanpage" stellte die Aufnahme online. Sie verbreitete sich schnell viral.

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Quelle:
SZ vom 08.08.2016
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