Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Italiens Regierung schaltet auf Angriff um

  • Nach Einschätzung der EU-Kommission ist ein Strafverfahren gegen Italien nötig.
  • Italiens Premier Giuseppe Conte kündigt bereits Widerstand gegen die drohenden Maßnahmen an.
  • Doch noch ist es nicht entschieden: die Euro-Finanzminister müssen den Sanktionen zustimmen.

Von Matthias Kolb, Brüssel, und Stefan Ulrich

Die Regierung in Rom war auf die schlechte Nachricht aus Brüssel vorbereitet. Sie wusste, dass ihr wegen der hohen italienischen Schulden ein Defizitverfahren droht. Dennoch hat sie am Mittwoch vielstimmig und mehrdeutig auf die Erklärung der EU-Kommission reagiert. Premier Giuseppe Conte, der moderate Vorzeigemann der radikal-populistischen Regierung, versicherte auf einer Reise in Vietnam: "Ich werde alles tun, um ein Defizitverfahren abzuwenden." Italien könne mit höheren Einnahmen rechnen, das verschaffe Spielraum, um auf die schlechte Konjunktur zu reagieren. Und sein Vizepremier Luigi Di Maio von der Partei Cinque Stelle beteuerte: "Wir sind ernsthafte Leute, und Italien ist ein ernsthaftes Land, das sein Wort hält." Daher werde man nun verantwortungsbewusst und konstruktiv in Brüssel verhandeln.

Doch gleich darauf schaltete Di Maio auf Angriff um: An dem kritischen Defizit sei der bis vor einem Jahr regierende sozialdemokratische Partito Democratico schuld. Zudem hätten auch andere EU-Staaten in den vergangenen Jahren viel mehr Schulden gemacht, als es das europäische Recht erlaube. Doch gegen diese habe es keine Sanktionen gegeben. Und dann fügte der Vizepremier mit Blick auf seine Wähler hinzu: "Die Renten der Italiener rühren wir nicht an." Die Verhandlungen mit der EU dürften also schwierig werden.

Auf jeden Bürger Italiens entfallen 38 400 Euro Staatsschulden

Am Mittwochmittag hatte Valdis Dombrovskis, der für den Euro zuständige Vizepräsident der EU-Kommission, offiziell bestätigt, womit nicht nur in Brüssel alle gerechnet hatten: In den Augen der Behörde ist es "angebracht", ein Defizitverfahren gegen Italien einzuleiten. Die Höhe der öffentlichen Schulden lasse keinen anderen Schluss zu: Im Jahr 2018 betrugen die Verpflichtungen des Landes 132,2 Prozent der Wirtschaftsleistung und lagen damit weit über der Obergrenze von 60 Prozent. In ihrem 22 Seiten umfassenden Bericht bemängelt die EU-Kommission, dass der Schuldenabbau nicht im versprochenen Ausmaß gelungen sei. Weil zudem damit zu rechnen sei, dass Italiens Wirtschaft langsamer wachse, werde das Verhältnis von Schulden zum BIP 2019 auf 133,7 Prozent und 2020 auf 135,2 Prozent steigen.

Dombrovskis beschrieb die Folgen der übermäßigen Ausgabenpolitik mit drastischen Worten. "Italien zahlt heute für seinen Schuldendienst so viel wie für sein ganzes Bildungssystem", sagte der Lette, der als Premierminister sein Land nach der globalen Finanzkrise mit einem eisernen Sparprogramm saniert hatte. Für jeden Einwohner Italiens ergebe sich eine Pro-Kopf-Schuldenlast von 38 400 Euro, hinzu kämen etwa 1000 Euro pro Jahr an Schuldenleistungen wie Zinsen, erklärte Dombrovskis. Wegen des "Vertrauensverlustes" der Märkte und eines "fast zum Stillstand gekommenen Wirtschaftswachstums" habe Italien 2,2 Milliarden Euro mehr für höhere Zinsen ausgeben müssen, als noch im Frühjahr 2018 vorhergesagt worden war.

Mit dieser Empfehlung holt die EU-Kommission einen Schritt nach, den viele Experten und Mitgliedstaaten schon Ende 2018 erwartet hatten. Kurz vor Weihnachten hatte die Regierung aus Rom Zusagen über zehn Milliarden Euro Einsparungen gemacht, was in Brüssel als Schritt in die richtige Richtung interpretiert wurde.

Dass die Kommission nun Härte zeigt, liegt wohl auch an einer gehörigen Portion Frust und Enttäuschung. In den vergangenen fünf Jahren hatten alle italienischen Regierungen um Ausnahmeregelungen gebeten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Der Sozialdemokrat Matteo Renzi wollte mit progressiver Politik das minimale Wirtschaftswachstum ankurbeln - und scheiterte. Sein Nachfolger Paolo Gentiloni bat Brüssel um Nachsicht, um einen Wahlerfolg der Populisten zu verhindern - und scheiterte im Frühjahr 2018. Seitdem regieren Lega und Cinque Stelle.

Die Regierung ist populär, weil sie niedrigere Steuern und höhere Renten verprochen hat

Dombrovskis betonte, dass die Empfehlung nur den Beginn eines langen Prozesses darstelle und die Kommission nicht allein handele. Der Wirtschafts- und Finanzausschuss der Euro-Länder habe nun zwei Wochen Zeit, um zum Bericht Stellung zu nehmen. Anschließend müssten die EU-Finanzminister mit qualifizierter Mehrheit zustimmen, was Anfang Juli geschehen könnte. Bis Ende des gleichen Monats müsste die EU-Kommission entscheiden, mit welchen finanziellen Sanktionen sie gegen Italien vorgehen will. Bei einem "schwerwiegenden Verstoß" könnte Rom aufgefordert werden, bei der Kommission eine unverzinsliche Einlage in Höhe von 0,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu hinterlegen; im Falle Italiens steht eine Summe von 3,5 Milliarden Euro im Raum. Sollten die Euro-Finanzminister den Vorschlag der Kommission nicht bis zum 7. August blockieren, muss Italiens Regierung bis Mitte Oktober darlegen, wie sie die Auflagen des Defizitverfahrens einhalten will.

Für konsequentes Vorgehen mit "spürbaren Folgen" plädiert der Europaabgeordnete Markus Ferber (CSU): "Dass die Kommission gegenüber Italien nun die Gangart verschärft, ist vernünftig. Wenn sie glaubwürdig sein will, muss sie nun auch gegenüber Frankreich konsequent sein und darf nicht mit zweierlei Maß messen."

Die Frage ist nur, ob Italien einlenken wird. Die seit einem Jahr amtierende Regierung aus den Cinque Stelle und der rechtsradikalen Lega verdankt ihre Popularität besonders ihren Versprechen niedrigerer Steuern, höherer Renten und eines Bürgerlohns für Arbeitslose und Schlechtverdiener. An diesem Programm müsste die Regierung Abstriche machen. Vizepremier Salvini von der Lega hat aber am Mittwoch klargemacht, er werde nicht nachgeben: "Wir verlangen von Europa Würde, Arbeit und (das Recht), das Geld der Italiener zu verwenden."

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SZ vom 06.06.2019/brä
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