Süddeutsche Zeitung

Italien:Schulbeginn mit vielen Fragezeichen

Nach sechs Monaten füllen sich die Klassen wieder - begleitet von logistischem und organisatorischem Chaos.

Von Oliver Meiler, Rom

In keinem Land Europas sind die Schulen wegen der Pandemie und den Sommerferien länger geschlossen geblieben als im früh und hart getroffenen Italien: sechs Monate insgesamt. Die Entscheidung der Regierung, sie nicht früher zu öffnen, wurde vom Volk breit getragen, obschon er die Familien vor große Schwierigkeiten stellte. In Italien arbeiten oft beide Eltern, damit es fürs Leben reicht. Auf einmal konnte man für die Kinderbetreuung auch nicht auf die Großeltern zählen, weil die ja der gefährdetsten Alterskategorie angehören.

An diesem 14. September kehrt nun ein Großteil der schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen in ihre Klassen zurück - begleitet von viel ungefährer Kommunikation, logistischem Chaos und dem üblichen Polemisieren der Politik. Etliche Fragen sind trotz der langen Vorbereitungszeit noch ungelöst. Lucia Azzolina, die junge Bildungsministerin von den Cinque Stelle, musste dafür in den vergangenen Wochen viel Kritik einstecken. Azzolina versprach zum Beispiel, dass der Staat allen Schülern gratis Gesichtsmasken verteilen werde, doch längst nicht überall sind die Lager ausreichend bestückt. Insgesamt fehlten drei Tage vor dem D-Day 77 Millionen Masken. Tragen sollen die Kinder den Schutz, wenn sie nicht an ihrem Platz sitzen. Versprochen wurde auch, dass es zum Schulstart in allen Klassenzimmern Einzeltische geben werde, total 2,4 Millionen, doch die Ambition war völlig überzogen: Die Fabriken schafften nur einige Hunderttausend. Nun soll das Versprechen bis Ende Oktober eingelöst werden.

Kontrovers verhandelt wird auch die Frage, wer den Kindern am Morgen jeweils die Körpertemperatur messen soll: Die Regierung beschloss, dass die Eltern daheim dafür zuständig seien. Bei Fieber und anderen möglichen Symptomen für eine Infizierung mit Corona müssen die Kinder zuhause bleiben und der Arzt benachrichtigt werden. Der Regionspräsident des Piemonts drängte darauf, dass die Temperatur stattdessen in den Schulen gemessen werde - einheitlich, den Eltern sei nicht zu trauen. Rom wollte im August 85 000 Lehrer rekrutieren, damit die bereits absehbaren Absenzen und die unweigerlich eintretenden Lücken kompensiert werden können: Im Lehrpersonal ist die Sorge vor einer Ansteckung groß, und die Aussicht auf eine Stelle offenbar nicht interessant genug. Nur 22 000 ließen sich bisher finden.

Und so ist ein Teil der italienischen Schulen noch nicht bereit. In einigen Regionen wurde der Neustart in eine neue Normalität, wie sie genannt wird, bereits um eineinhalb Wochen aufgeschoben, weil am kommenden Wochenende Wahlen stattfinden: Vielerorts fungieren Schulen als Wahllokale. Die Räumlichkeiten müssen nach dem Urnengang erst wieder desinfiziert werden. In der Region Kampanien ist Gouverneur Vincenzo De Luca, der wohl gerade wegen seiner Härte im Kampf gegen das Virus wiedergewählt wird, nicht einmal sicher, ob er die Schulen nach der Säuberung am 24. September öffnen mag. Als er danach gefragt wurde, sagte er: "Ich weiß es nicht." Die Zahl der Neuansteckungen steigt seit sechs Wochen in ganz Italien wieder an, und mit ihr die Sorge um die Großeltern.

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Quelle:
SZ vom 14.09.2020
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