Süddeutsche Zeitung

Italien:Die Verwandlung des Giuseppe Conte

Einst verhöhnten sie ihn als Professörchen aus der Provinz. Heute ist der Premier der einzige Politiker, dem die Mehrheit der Italiener zutraut, das Land vor dem Chaos zu bewahren.

Von Oliver Meiler, Rom

Alles saß mal wieder perfekt, der Anzug, das weiße Einstecktuch mit den Zacken, auch die nachgefärbte Haarsträhne war gebändigt. Giuseppe Contes Auftritte sind sich so ähnlich, so kompakt in der Gesamterscheinung, dass man meinen könnte, er übe sie vor dem Spiegel. Selbst im Moment seiner politischen Erzweihe leistete er sich keine Frivolität, kein Lächeln der Genugtuung etwa, nicht einmal einen Hauch davon. Conte durchmaß den Hof des Quirinalspalasts steif wie ein wandelndes Protokoll, nahm den Regierungsauftrag entgegen, den Staatspräsident Sergio Mattarella für ihn bereithielt, und versprach, sein neues Kabinett, das in den kommenden Tagen entstehen soll, werde Italien politisch stabilisieren, modernisieren und wirtschaftlich wettbewerbsfähiger machen.

Dieses unaufgeregte Bild des alten und wohl auch neuen Premiers, es illustriert den vorläufigen Epilog einer schier unfassbaren römischen Sommergeschichte. Im italienischen Kalender ist der August der Monat des heiligen Stillstands, zelebriert wie ein unverrückbares Ritual. Alles ruht, die Politik sowieso. So war das immer, so wird es hoffentlich bald wieder sein.

Matteo Salvini wollte "alle Vollmachten", wie er sich ausdrückte. Das ging daneben

August 2019 aber war anders, weil ein Mann allein, Matteo Salvini, den Moment gerade für opportun hielt, für sich nach der ganzen Macht zu greifen, oder wie er es nannte: nach "allen Vollmachten" - und damit spektakulär scheiterte. Die gesamte italienische Machtgeometrie hat dieser August verändert. Alle politischen Gleichgewichte wurden so sehr verschoben, wie man das vor drei Wochen für unmöglich gehalten hätte. Und Conte steht mitten im neuen Gefüge, ein neuer Conte, er soll es gestalten.

Vor etwas mehr als einem Jahr wunderten sich die Italiener über diesen fein gekleideten, jungenhaften Mittfünfziger aus Apulien, Rechtsprofessor und Anwalt, den man ihnen als neuen Premier des populistischen Kabinetts aus Cinque Stelle und Lega vorstellte. Conte war bis dahin dermaßen unbekannt, dass man auch Mattarella zuerst einen Lebenslauf schicken ließ. Es zirkulierte eine pompöse Vita, mit reichlich Forschungseinträgen an ausländischen Universitäten. Aber so wurde seine Berufung aus dem Nichts nun mal gerechtfertigt: ein Mann mit Meriten. Wie ein Notar sollte er über die Einhaltung des Koalitionsvertrags wachen.

Er selbst nannte sich "Anwalt des Volkes" - und wurde lange verhöhnt. Als Vize seiner beiden Vizepremiers, von Salvini und Luigi Di Maio, dem Chef der Cinque Stelle. Als "Puppe", als "halber Premier", als "Signor Sì", als Ja-Sager also, als "Professorchen aus der Provinz". Salvini und Di Maio schickten ihn zu den internationalen Gipfeln, die ihnen, den Tribunen daheim, nicht so wichtig waren. Conte bewegte sich auch auf den Bühnen der Welt wie immer: kompakt, unaufgeregt.

In einer Kaffeepause beim Weltwirtschaftsforum in Davos flüsterte er Angela Merkel zu, sie müsse die römischen Populisten nicht allzu ernst nehmen, das sei viel Theater. Jemand filmte die Szene. Für Donald Trump war "Giuseppi", wie er ihn dieser Tage in einem Tweet nannte, bald der richtige Premier für Italien. Das mag für die meisten Politiker im Westen ein zweifelhaftes Sponsoring sein. In Rom aber ärgerte sich Salvini, dass Trump ihm offenbar den Hampelmann vorzieht. Conte hatte im Ausland schon einen Namen, da belächelte man ihn in Italien noch. Beim G-7-Gipfel in Biarritz machten die Mächtigen klar, dass sie ihn zu ihrem Kreis zählten.

Conte ist nun Politiker, durch und durch. Seine Rede im Senat, diese Abkanzelung Salvinis, mit dem er immerhin mehr als ein Jahr regiert hatte, still und dienstfertig - sie bescherte ihm in Rekordzeit ein völlig neues Image. Fünfzig Minuten reichten für die Metamorphose. 14 Millionen Italiener schauten zu, so viele wie sonst nur bei Fußballspielen der Nationalmannschaft. Und das an einem Augustnachmittag, zur Strandzeit. Vielleicht wird man diese Rede einmal zu den wichtigsten der jüngeren italienischen Geschichte zählen. Nicht weil sie besonders gut gewesen wäre, das war sie nicht. Sondern weil sie den Redner so plötzlich groß machte und die Machtverhältnisse im Land auf den Kopf stellte.

Nun wird Conte, der in seiner ersten Version einem rechten bis ultrarechten Kabinett vorsaß, eine linke Regierung formen, mit linken Ministern, linken Inhalten und einer größtenteils linken Mehrheit im Parlament. Mitmachen wollen auch "Liberi e Uguali", die Linkspartei von ganz links außen. Geht das? Selbst für Italien, Land des Transformismus, ist Contes Operation ein Novum. Die Italiener aber meinen mehrheitlich: Ja, das geht.

Conte wählte früher links, wie er gerne erzählt. Bei den Cinque Stelle, die er nun auch offiziell vertritt, gibt es einen progressiven und grünen Flügel, der zuletzt etwas untergegangen war. Dieser Flügel siegte nun über die "Falken", die sich gegen eine Allianz mit den Sozialdemokraten sperrten. Auch Di Maio war mal Falke. Neben Salvini ist er großer Verlierer dieser Sommerkrise. Eine Zeitung nannte ihn "Salvinis Waisen", so eng scheinen beider Schicksale verknüpft zu sein. Nun sucht man einen Posten für ihn, ein Trostpflaster.

Conte bricht mit dem klassischen Bild des unerfahrenen, antikonformistischen Fünf-Sterne-Politikers. Er wirkt gar wie ein idealtypischer Vertreter jener Kaste, die die Bewegung einst zum Teufel wünschte. Die katholische Kirchenhierarchie mag ihn, die Industriellen schätzen ihn, sogar die Intellektuellen tun es. Und im Volk ist nur Mattarella noch beliebter als Conte. Irgendwann, so merkten auch die Sozialdemokraten, gab es keinen Weg mehr vorbei am verwandelten "Professörchen".

Zu den großen Gewinnern gehören auch jene beiden Herrschaften, die im zentralen Moment aus ihrer Versenkung stiegen und die Koalition der alten Rivalen überhaupt möglich machten. Zunächst Matteo Renzi. Der frühere Premier und Sekretär des Partito Democratico, heute einfacher Senator, führte dafür einen staunenswerten Rückwärtssalto vor. Bis zu Salvinis Augustmanöver hatte Renzi die Cinque Stelle immer "cialtroni" gerufen: Strolche, Nichtsnutze.

Renzi ist zurück, feixend und triumphierend

Doch als er erkannte, dass er "den anderen Matteo" bremsen kann, operierte er eine radikale Wende. Für das Wohl des Landes, wie er versicherte. Er räume dafür auch alle persönlichen Ressentiments aus dem Weg. Mag sein, dass das Pathos etwas dick aufgetragen war. Doch die Rechnung ging auf. Im Parlament sind viele Sozialdemokraten "Renzianer", sie hören auf ihn. Mit seinem schnellen Streich konnte er auch den neuen Sekretär der Partei, seinen internen Rivalen Nicola Zingaretti, zu einer Allianz bewegen - oder sollte man sagen: zwingen? Zingaretti hätte Neuwahlen vorgezogen. Renzi ist also zurück, feixend und triumphierend. Ohne seine Unterstützung überlebt die neue Regierung nicht.

Fast ebenso erstaunlich wie die Umkehr Renzis war jene Beppe Grillos, nur einen halben Tag danach. Der Gründer und sogenannte Garant der Cinque Stelle konnte die Sozialdemokraten noch nie leiden, nun öffnete er sich ihnen mit einer unmöglich gewähnten Vehemenz. Lasse die Partei jetzt Neuwahlen zu, schrieb er in seinem Blog, so etwas wie die Bibel der Bewegung, sei das politischer Selbstmord. "Und wir sind schließlich keine Kamikaze." Grillo hatte davor oft beteuert, er schaue nur noch aus der Ferne auf seine Kreatur. Die Jungen, Di Maio & Co., seien groß genug, um sich alleine durchzuschlagen.

Nun holte er sich die Partei zurück, mit einem Ruck. Offenbar setzte er sich gegen Davide Casaleggio durch, den Sohn des Mitgründers und Chef der Mailänder Internetfirma Casaleggio Associati, über die alle Aktivitäten der Partei laufen. Dem wäre eine Fortsetzung mit der Lega lieber gewesen. Grillo war es auch, der mit Herz für Contes Bestätigung warb, für Conte II. Dabei kann man sich unterschiedlichere Welten kaum vorstellen als die des zuweilen irrlichternden Komikers aus Genua und jene des förmlichen Anwalts aus Apulien. Der verspottete Conte ist jetzt der Retter, geboren in einem ungewöhnlichen August.

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SZ vom 30.08.2019/fie
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