Flüchtlinge in Italien:Not, die bleibt

Flüchtlinge in Italien: In Ventimiglia, einem kleinen italienischen Ort an der Grenze zu Frankreich, schlafen Flüchtlinge unter einer Brücke, und hoffen darauf, nach Frankreich zu gelangen.

In Ventimiglia, einem kleinen italienischen Ort an der Grenze zu Frankreich, schlafen Flüchtlinge unter einer Brücke, und hoffen darauf, nach Frankreich zu gelangen.

(Foto: AFP)

Die Italiener haben sich daran gewöhnt, dass Tausende Flüchtlinge an ihren Küsten ankommen. Ihre Versorgung ist besser geworden. Dennoch tut die Politik so, als würde das Problem von selbst verschwinden.

Von Andrea Bachstein

Knapp 300 Kilometer Luftlinie liegen zwischen der libyschen Küste und der Insel Lampedusa. Weil es eine kurze Strecke ist, wagen dort Flüchtlinge aus Afrika die Überfahrt nach Europa. 235 000 Flüchtlinge warten zurzeit in Libyen darauf, die Fahrt übers Mittelmeer anzutreten, sagte der UN-Sonderbeauftragte für Libyen am Donnerstag.

Weil es eine gefährliche Strecke ist, ertrinkt einer von 23 Menschen, die sich den Schleppern und ihren wackligen Booten anvertrauen, das teilten die UN im Mai mit. Italiens Küstenwache und die Marine arbeiten gegen das Sterben an. Kürzlich retteten sie an einem einzigen Tag 6500 Flüchtlinge aus dem Kanal von Sizilien.

Was passiert mit denjenigen, denen die Überfahrt gelingt? Bis Ende August waren es in diesem Jahr 115 000 Menschen, die auf dem Seeweg die italienische Küste erreichten. Sich für ihre Belange einzusetzen, ist die Aufgabe von Christopher Hein, Gründer, Ex-Präsident und nun Direktor des italienischen Flüchtlingsrates Cir, einer Hilfsorganisation mit Hauptsitz in Rom.

Was die Stimmung der Italiener betrifft angesichts der Flüchtlinge, meint Hein: "Die Seeankünfte sind ein permanenter Zustand geworden, er löst keine besondere Erregung mehr aus." Es gebe ab und zu Brennpunkte wie an der französischen Grenze bei Ventimiglia oder zur Schweiz bei Como, in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehe das Thema aber nicht ganz oben. Und die Zahlen der Bootsflüchtlinge, die an einigen Tagen so hochschnellen, waren schon dramatischer: 2014, ehe die östliche Mittelmeer- und die Balkanroute zur Hauptstrecke wurden, kamen 170 000 Menschen übers Meer nach Italien. Dieses Jahr, da der größte Zustrom wieder über die zentrale Mittelmeerroute läuft, würden es vermutlich weniger werden, meint Hein.

Die geforderten Hotspots wurden mittlerweile gebaut. Alle würden nun registriert

Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR hat für Juli gut 23 000 Menschen gezählt, im August um die 21 000, im Herbst werden es erfahrungsgemäß weniger. Vor einem Jahr um diese Zeit waren es insgesamt 116 000, etwas mehr als jetzt.

Italien wurde über Jahre vorgeworfen, es sei zu nachlässig mit der Registrierung von Flüchtlingen, und zwar absichtsvoll. Die meisten wollten nicht in Italien bleiben, Italien war das recht, so zog ein erheblicher Teil der Migranten und Flüchtlinge weiter nördlich, zu vielversprechenderen Arbeitsmärkten, und Italiens Behörden schauten weg. Das habe sich deutlich verändert, sagt Hein.

Seit September 2015 hat Italien die von der EU verlangten Hotspots eingerichtet, in Apulien, Kalabrien, auf Sardinien und Sizilien. Das Innenministerium gebe an, 100 Prozent der Bootsflüchtlinge würden identifiziert und registriert. Der Cir-Direktor hält 90 Prozent für wahrscheinlicher, die Kritik an einer "Durchwinkepraxis" Italiens seitens der EU ist jedenfalls verstummt.

Das Letzte, was traumatisierten Menschen guttut

Ein weiteres Problem war lange die Unterbringung, angefangen von der Erstaufnahme - zu wenige Plätze, teils miserable Zustände, Lampedusa etwa erlangte deshalb traurige Berühmtheit. Die Zahl der Aufnahmeplätze ist stark gestiegen. "2005 gab es offiziell 5000, jetzt sind es 120 000", berichtet Hein, "untergebracht sind dort etwa 140 000 Menschen", das UNHCR nennt für Ende August 147 722. "Das schafft zwar Stress für das System, und es gibt Missstände, aber im Großen und Ganzen geht es", so Hein, und: "Perfekt sind die Zustände in solchen Zentren nirgendwo, auch in Deutschland nicht."

Das EU-Verteilungsprogramm für Flüchtlinge hilft bisher nicht viel. Bis September 2017 sollten knapp 40 000 Flüchtlinge aus Italien in andere Länder verteilt sein, bis jetzt sind es gerade 1026 - 2,6 Prozent des Ziels.

Die Flüchtlinge, die über Libyen kommen, sind zum größten Teil Subsahara-Afrikaner, Nigerianer, Eritreer, Gambier, Sudanesen. Oft haben sie monate-, gar jahrelange Fluchten hinter sich und sind traumatisiert - nicht zuletzt von der Überfahrt über den Kanal von Sizilien.

Die Hotspots, wo sie eingeschlossen sind, seien eigentlich das Letzte, was traumatisierten Menschen guttue, sagt Hein, auch reichten die Kapazitäten nicht, für richtige psychologische Betreuung etwa für Frauen, die oft vergewaltigt wurden. Aber bei vielen sei es sehr schwierig, individuelle Gespräche zu führen, auch wenn die EU-Richtlinien das verlangen. Und 15 Prozent der Flüchtlinge in Italien sind unbegleitete Minderjährige, die besonders viel Betreuung brauchen.

Was zu nicht perfekten Zuständen beitrage, sei, dass ein Großteil der Flüchtlinge nach der Erstaufnahme in Unterkünfte umziehe, die irgendwie schnell umgewidmet wurden, ausgediente Kasernen, öffentliche Gebäude. Und damit ist man bei dem, was Experte Hein für das zentrale Problem hält: dass die Politik mit dem Flüchtlings- und Migrantenzustrom umgehe, als sei es ein vorübergehendes Phänomen. "Was kommt nach der Erstaufnahme, nach den Verfahren? Die Integration.

Da hat Italien strategisch noch nicht genug gemacht." Man sei zu sehr auf die Notlage konzentriert. Es gebe kein weitreichendes Programm, nur zeitlich wie finanziell begrenzte Projekte. Auch die vorgesehenen sechs Monate Sprachunterricht erhalte tatsächlich nur eine Minderheit. Die Regierung arbeite an einem Integrationsprogramm, aber unter der Prämisse, dass keine Zusatzkosten anfallen - "wie soll das gehen?"

Die meisten Asylanträge kommen von Nigerianern. Tendenz steigend

Auch müssten Flüchtlinge oft lange auf den Ausgang ihrer Verfahren warten, die auf Verwaltungsebene laufen, aber bei Einsprüchen auch über die Justiz - in Italien chronisch überlastet -, und dort seien Richter betraut, die nicht spezialisiert sind. Wegen der langen Verfahren blieben Neuankömmlinge zeitweise ohne Papiere, haben deshalb Probleme, Unterkunft und somit auch Arbeit zu bekommen. Und selbst wenn sie Zugang zum kostenlosen Gesundheitssystem haben, zu Schulen und Unis, "damit haben sie noch nichts gegessen", und Sozialleistungen sind generell gering in Italien.

So wichen viele in illegale Arbeit aus, mit teils extremer Ausbeutung etwa in der Landwirtschaft. Oder sie wandern ab in andere EU-Länder. Und natürlich ist das System belastet mit Migranten, die wegen ihrer Herkunftsländer wie in Deutschland wenig Aussicht auf Anerkennung haben: Mit großem Abstand und steigender Tendenz stellen Nigerianer, größte Gruppe der Flüchtlinge, die meisten Asylanträge: laut Innenministerium im August fast 2900 von knapp 11 500.

Der Justizminister will die Verfahren beschleunigen, Hein sagt, im Prinzip sei das gut, es komme aber darauf an, ob die Rechtsgarantien blieben, ob also ein faires Asylverfahren gewährleistet sei.

Fragt man Hein, wie es wohl weitergeht, sagt er, das hänge einerseits von der Türkei ab und andererseits von der Lage in Libyen, der großen Drehscheibe. Es gibt EU-Programme, die libysche Küstenwache aufzurüsten und auszubilden, aber der Staat ist extrem instabil, im Machtvakuum gedeiht das Recht des Stärkeren. Flüchtlinge sind da die Schwächsten.

Schleuser pressen ihnen das letzte Geld und mehr ab. Viele müssen dort arbeiten, um die letzte Etappe übers Mittelmeer zu bezahlen, das ermöglicht jede Art der Ausbeutung. Cir ist seit sieben Jahren in Libyen tätig, und Hein sagt, die Abschiebezentren "der grausamsten Art" dort seien wieder voll afrikanischer Flüchtlinge. Abertausende wurden zu Zeiten von Muammar al-Gaddafi dort festgehalten, nach der Revolution von 2011 waren sie leer. Jetzt gebe es auch von Milizen kontrollierte Camps, Willkür und Misshandlungen seien an der Tagesordnung.

Hein besorgt am meisten, dass ein langfristiges Konzept für die Flüchtlingssituation fehlt, "es herrscht ein Mangel an Politik, die in die Zukunft greift. Das ist es auch, was die Bürger beunruhigt".

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