Armut in Italien:Wunden der Seuche

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Armut in Italien: Essen für die Armen: Helfer des italienischen Grünen Kreuzes verteilen ein Kartoffelgericht, das in einem Restaurant in Turin zubereitet wurde.

Essen für die Armen: Helfer des italienischen Grünen Kreuzes verteilen ein Kartoffelgericht, das in einem Restaurant in Turin zubereitet wurde.

(Foto: MIGUEL MEDINA/AFP)

In der Pandemie ist die Zahl der Menschen in absoluter Armut stark gewachsen - trotz Hilfen. Vor allem Italiener und Ausländer mit Jobs in der Schattenwirtschaft fielen durch die Maschen der Schutznetze.

Von Oliver Meiler, Rom

Die Pandemie hat neben Krankheit und Tod auch neue Armut gebracht. In Italien, so hat es das nationale Statistikamt errechnet, ist die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, im vergangenen Jahr auf einen historischen Rekordwert gestiegen - zumindest seit so gerechnet wird. Mehr als zwei Millionen Familien gehörten 2020 in die Kategorie "Povertà assoluta". Das sind 7,7 Prozent aller Familien im Land. 2019 waren es 6,4 Prozent gewesen. In absoluten Zahlen: 5,6 Millionen Italienerinnen und Italiener sind nach der Berechnungsmethode von Istat absolut arm, eine Million mehr als im Vorjahr, fast jede oder jeder zehnte. Und noch etwas offenbaren die Zahlen: Ein soziales Phänomen trifft das ganze, wirtschaftlich zerrissene Land. Mehr noch: Im wohlhabenderen Norden Italiens wuchs die Armut in der Pandemie zweimal so stark wie im Süden.

Anzeichen dafür hatte es schon lange vor dem Bericht gegeben. Als nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 die Gassenküchen und Ausgabestellen karitativer Organisationen wieder öffnen durften, waren die Warteschlangen so lange wie nie - nicht nur in Neapel und Palermo, sondern auch in Rom, Genua, Padua, Mailand. Das Fernsehen zeigte Szenen, die man aus der Schwarz-Weiß-Zeit kannte. "Wir haben unsere Verteilzentren für Essen in Rom von drei auf 28 erhöht", sagt Augusto D'Angelo, 59, Geschichtsprofessor an der römischen Universität La Sapienza und Mitglied der ersten Stunde der katholischen Laienorganisation Sant'Egidio.

"Hunger war das größte Problem." Der Staat sei in der ersten Welle noch nicht bereit gewesen. "Es gab nur uns, die Caritas, Vereinigungen aus dem 'terzo settore'." Dritter Sektor - so nennt man Hilfsvereinigungen für die Ärmsten, für Obdachlose und Migranten. In Italien gibt es eine große Menge engagierter Organisationen mit Hunderttausenden freiwilligen Helfern und Spendern - ein schönes Stützbein der Gesellschaft.

Die parteilose Mailänder Freiwilligenorganisation "Pane Quotidiano", Tägliches Brot, ist so eine Vereinigung. Gegründet wurde sie 1898, sie musste in ihrer Geschichte auch während der Kriege nie schließen. Bis Corona kam. Vielleicht waren die Bilder vor ihren zwei legendären Ausgabestellen in Mailand, an der Via Toscana und am Viale Monza, für die Italiener die aufrüttelndsten von allen. Man sah dort auch Menschen anstehen für Essenspakete aus Pasta, einer Dose Gemüse, frischen Früchten und Brot, die man früher da noch nie gesehen hatte: Auch Junge waren dabei, die ihren Job verloren hatten in der Pandemie. Mailand gilt als Inbegriff der nationalen Moderne, als mythisch überhöhter Antrieb von Wirtschaft und Wohlstand. Nun hatte es auch Mailand erwischt. In ihren Mensen in der Stadt habe Sant'Egidio die Essensrationen verdreifacht, sagt D'Angelo.

Barilla verärgert mit ungeschicktem Appell

In Italien gilt zwar seit vergangenem Jahr ein Entlassungsstopp: Der Staat verbietet den Firmen, ihre Angestellten auf die Straße zu setzen, und finanziert dafür Kurzarbeit. Doch nun rächte sich, dass viele Italiener schwarz arbeiten, ohne Vertrag, Sozialleistungen und Kündigungsschutz. Fast ein Viertel der italienischen Wirtschaft ist schattig, auch im Tourismussektor und in den Restaurants, die beide arg getroffen wurden. Kellner, Pizzabäcker, Hotelangestellte verloren ihren Job - auch viele ausländische. Hätte der Staat nicht massiv geholfen und hätten einige Millionen Italiener aus den fragileren Schichten nicht auf den Bürgerlohn bauen können, dann wäre die Armut noch viel stärker angestiegen.

Jetzt, da Wirtschaft und Tourismus wieder in Gang kommen, suchen Firmen Angestellte in großer Zahl und klagen, sie würden nicht genügend Arbeitskräfte finden, etwa für die Sommersaison. Angeboten werden hauptsächlich zeitlich begrenzte Jobs. Unternehmer verbreiten das maliziöse Narrativ, viele Italiener würden sich deshalb nicht bewerben, weil sie lieber von den Zuschüssen lebten. Eine heftige Reaktion löste Guido Barilla aus, Konzernchef des berühmten Teigwarenherstellers aus Parma, als er in einem Interview sagte: "Ich richte einen Appell an die Jungen: Macht es euch nicht bequem mit einfachen Lösungen, verzichtet auf Hilfen und akzeptiert die Herausforderung."

Vielleicht war das gar nicht böse gemeint, so kam es aber an. In den sozialen Medien gab es dafür einen veritablen Shitstorm: Der Milliardenerbe Barilla habe gut reden, hieß es. Und: Wenn die Unternehmen junge Mitarbeiter endlich anständig bezahlen würden, wäre man nicht in einer solch misslichen Lage. Tatsächlich schaffen es viele junge, gut ausgebildete Italiener nicht, mit ihren ersten Löhnen ihren Lebensunterhalt autonom zu bestreiten, und ziehen deshalb weg. Die Pandemie verschärfte das Drama: In der Altersklasse 18 bis 34 Jahre wuchs die Armut 2020 besonders stark.

Eine positive Entwicklung habe man dennoch festgestellt, sagt Augusto D'Angelo von Sant'Egidio. "In der Pandemie wurde allen bewusst, dass wir eine große Gemeinschaft sind, dass sich keiner alleine retten kann." Und deshalb sei auch die Solidarität überwältigend gewesen. "Wir zählen Hunderte neuer Helfer - Leute, die zu uns kommen und sagen: 'Mir geht es gut, ich kaufe auch für die ein, die nichts haben.'" Damit die Maschen im Netz nicht zu groß werden.

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