Süddeutsche Zeitung

Migration über das Mittelmeer:"Sea-Eye 4" bringt fast 850 Migranten nach Sizilien

So viele Flüchtlinge wie jetzt sind schon lange nicht mehr auf einmal nach Italien gekommen. Die Innenministerin gerät unter Druck und klagt über die unsolidarischen Partner in der EU.

Von Oliver Meiler, Rom

In Italien kommen wieder volle Rettungsboote an, es sind so große dabei, wie man sie seit 2017 nicht mehr gesehen hat. Trotz schlechter Witterung, trotz hohen Wellengangs im zentralen Mittelmeer. "Maxi sbarco", schreiben die italienischen Zeitungen, Maxi-Ankunft. An Bord der Sea-Eye 4 von der gleichnamigen Hilfsorganisation aus Regensburg zum Beispiel, die am Sonntag nach langem Warten auf die Zuweisung eines Hafens im sizilianischen Trapani anlegen durfte, zählten die Behörden 847 Flüchtlinge. Unter ihnen 54 Frauen und 170 Minderjährige, von denen 130 ohne Eltern unterwegs waren. Den Kleinsten schenkte die Caritas bunte Plastikbälle, mit denen sie am Hafenpier spielten. Manche Erwachsene stimmten immer wieder in denselben Chor ein: "Italia, Italia!"

Viele erleichterte, müde Gesichter waren zu sehen. Die Behörden nahmen die persönlichen Daten auf, testeten auf Covid-19. Dann wurden die Menschen auf zwei Quarantäneschiffe gebracht.

So fröhlich die Bilder und Chöre auch wirkten: Für die NGOs belegt der Fall der Sea-Eye 4 einmal mehr, dass Europa versagt im Umgang mit der Migration über das Mittelmeer. Malta, so erzählt die Crew, habe gar nicht erst auf ihre Hilferufe geantwortet. Die 847 Migrantinnen und Migranten waren bei mehreren Noteinsätzen zwischen Libyen und Malta an Bord geholt worden, in manchen Fällen kam die Hilfe in letzter Minute. Doch auch Italien nahm sich wieder viel Zeit, bis es eine Landungserlaubnis erteilte. Rom fühlt sich selbst alleingelassen von den europäischen Partnern.

Matteo Salvini nutzt jede Gelegenheit, um die Innenministerin anzugreifen

"Natürlich ist es richtig, dass wir Leben retten", sagte die italienische Innenministerin Luciana Lamorgese. "Doch nicht richtig ist, dass nur wir Leben retten." Die Italiener sind enttäuscht darüber, dass die Verhandlungen über einen neuen Asyl- und Migrationspakt in der Europäischen Union seit Monaten stocken und die exponierten Länder im Süden keine Solidarität erhalten aus dem Norden und Osten - wenigstens keine strukturelle. Noch immer verfährt man nach dem Verteilmodus des "Pakts von Malta"; der aber basiert auf der Freiwilligkeit einiger weniger Länder und wird jeweils Fall für Fall einzeln interpretiert.

Lamorgese steht auch innenpolitisch unter Druck, weil die Zahl übersetzender Migranten in diesem Jahr insgesamt wieder angestiegen ist: Vom 1. Januar bis 5. November zählten die Italiener fast 55 000 Ankömmlinge; 2020 waren es insgesamt 27 000 gewesen, 2019 nur 10 000. Im Vergleich mit den Jahren 2014 bis 2017, als jeweils weit mehr als 100 000 Migranten in Italien ankamen, ist das noch immer eine überschaubare Zahl. Doch Matteo Salvini von der rechten Lega, früher selbst Innenminister, verpasst keine Gelegenheit, um seine Amtsnachfolgerin anzugreifen. Diesmal sagte Salvini: "Ein deutsches Schiff lädt mehr als 800 illegale Einwanderer in Sizilien ab - eine Frage: Haben unsere Innenministerin und unser Außenminister Berlin und Brüssel dazu aufgefordert, die Last dieser Immigranten zu übernehmen, oder ist das für sie okay so?" Die Attacken sind auch deshalb denkwürdig, weil die Lega an der Regierung beteiligt ist.

Neuerdings mehren sich die Überfahrten auf einer alten, lange Zeit kaum frequentierten Route: aus der Türkei nach Kalabrien. Die neue italienische Wochenzeitung L'Essenziale berichtet in einer Reportage, dass auch ukrainische Seeleute als Schlepper Flüchtlinge auf Segelbooten und Yachten übers Meer an die Ionischen Küsten bringen. In den meisten Fällen handelt es sich um Iraker, Iraner, Ägypter, Syrer und in jüngerer Vergangenheit vor allem Afghanen. Über diese Route, hört man aus dem Innenministerium, kommen bereits 15 Prozent aller Migranten, die in Italien erstmals Boden der EU betreten. Fast alle anderen kommen noch immer über das zentrale Mittelmeer, etwa auch die 308 auf der Ocean Viking. Das Schiff von SOS Méditerranée liegt vor Lampedusa - und wartet dort auf die Zuweisung eines Hafens.

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